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Onanieren bis der Bösewicht kommt

■ Im Hamburger Argument Verlag ist der gelunge Erstlingskrimi „Granitfresse“erschienen

Tobias schleppt sich ins Badezimmer. Weil er deprimiert und obendrein viel zu früh von einem rätselhaften, lauten Knall aufgewacht ist, beschließ er, erst einmal ausgiebigst unter dem tröstlichen Strahl des warmen Wassers zu onanieren. Man hat ja sonst nichts vom Leben. Die Hitze und die heftige Stimulierung des Kreislaufs drohen ihn aus der Dusche zu kippen. Derangiert greift der knapp einer Ohnmacht Entronnene zum klingelnden Telefon. Tobias soll für seinen Fernsehsender die Verwüstung besichtigen, die die Explosion einer Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg auf einer Großbaustelle angerichtet hat. Tote, Verletzte, ein Krater – Tobias grunzt unenthusiastisch.

Denn eigentlich hatte sich der antriebslose Titelheld aus Martin Musers Debüt Granitfresse gerade darauf eingestellt, dem Nullachtfuffzehn-TV-Geschäft den Rücken zu kehren und in ungebremstem Selbstmitleid zu verharren. Doch wider Erwarten beginnt ihn zu interessieren, was die offensichtliche Mißachtung der Sicherheitsbestimmungen auf der Baustelle mit dem Rotlichtmilieu, einem Stararchitekten, pornographischen Schwulenphotos und Stasi-Bespitzelungen zu tun hat. Und warum er seinen Fernsehbericht über den großen Knall auf der Baustelle nicht senden durfte.

Mit Granitfresse ist es dem Hamburger Argument Verlag nach Dagmar Scharsichs Wendekrimi Die gefrorenen Charlotten ein zweites Mal gelungen, einen talentierten Polit-Krimi-Schreiber aus den Manuskriptbergen von Erstlingsautoren herauszufischen. Wie Die gefrorenen Charlotten spielt auch Martin Musers Geschichte in Berlin. Die Hauptstadt putzt sich unter großem Zeitdruck heraus. Da will die ohnehin zu halbseidenen Machenschaften neigende Baubranche sich nicht bei Kleinigkeiten wie der Suche nach Blindgängern aufhalten.

Wie es sich für einen anständigen Krimi gehört, gerät unser durchs Leben stolpernder Held Tobias nicht nur in amoröse Turbulenzen, sondern wird auch von Bösewichten schlimm zugerichtet. Ausgerechnet in einem Puff, wo er aktiv im Zimmer der Hure Katja recherchiert, wird er von gemeinen Schlägern der feindlichen Seite zur Strecke gebracht. Mit einer Schlinge um den Hals, an der ein Granitstein baumelt, kommt Tobias wieder zu sich.

Der miträtselnden Leserin schwant selbstredend längst, wie Erpressung, ein toter Wächter, käuflicher Sex und politische Mächte verbandelt sein könnten. Dennoch sind die selbstironischen Betrachtungen der Szene, die der Revulotion entwachsen, im Establishment aber nur zum Fußvolk gehört, amüsant bis zum letzten Buchstaben. Silke Mertins

Foto: Umschlag

Martin Muser: „Granitfresse“, 168 Seiten, 14,80 Mark, Argument Verlag, Zweite Reihe, Hamburg 1997

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