Die schöne Kunst des Zusammenbruchs

Country ist längst nicht mehr Musik für Rednecks und Bauerntölpel. Das Publikum kennt Teenager, Twens, Greise, Kinder, Schwarze und Weiße. Bloß hierzulande hat man's noch nicht gemerkt. Eine Bestandsaufnahme  ■ Von Anke Westphal

„We were born during the boom times / played house down in the bomb shelter / Suffered through the wonder years, and silence at the dinner hour / But once upon a summertime, out behind the old garage / We were buzzing on midnight, Luckys and Rolling Rock / Thinking we were heroes in our own hometown / Nothing less than heroes in that old hometown“ Mary Chapin Carpenter:

„Heroes In Your Own

Hometown“

Die Popsaison 1996/97 hatte eine Sensation auf einem Gebiet, wo niemand sie erwartet hätte – im Country. Ein kleines, blondes, pummeliges Südstaatenmädchen räumte nahezu alle Erste-Klasse- Preise ab, die in der Popbranche zu vergeben waren. LeAnn Rimes ist vierzehn Jahre alt, und es klingt ein bißchen komisch, wenn sie Zeilen singt wie „My baby gives me satisfaction / My baby gives me all his love“ („My Baby“).

LeAnn Rimes' Erfolg dem Versagen amerikanischer Jugendschutzgesetze zuschreiben zu wollen, wäre jedoch Quatsch mit Soße. Die Single „Blue“ stieg mit Platz 49 in die Charts ein und schaffte es innerhalb einer Woche auf Platz 3 der „Billboard“ Pop-Top ten. Fast überflüssig anzuhängen, daß auch Rimes' Album ganz vorne landete, auf der Nummer 1 der „Billboard“ Country-Top ten ist. Daß sie zugleich die jüngste Countrysängerin ist, die je so weit vorn debütierte, und dann auch noch gleich zwei Grammys (Best New Artist und „Best Female Country Vocal Performance) abräumte, erwähnen wir nur en passant. Schon liegen in den Buchläden von Nashville und New York zwei Biographien über Rimes, die kürzlich zum Interview bei ABCs Barbara Walters geladen war.

Country: jetzt auch für Komplizierte

Country und – Pop? „So unkompliziert wie der Country waren die Menschen, die ihn schufen“, stand 1994 im Life Magazine zu lesen. „Farmer, die dachten, mit dem richtigen Lied würde ihnen die Arbeit schneller von der Hand gehen. Prediger, die glaubten, daß der richtige Song den Sünder das Licht sehen ließe, und Schönlinge, die hofften, mit dem richtigen Lied das Herz einer hübschen Frau erweichen zu können.“ Nicht das ist kurios, sondern die sich anschließende sonnige Projektion. „Die Werte [des Country] blieben bis heute dieselben: harte Arbeit, wahre Liebe, ein unwiderstehlicher Rhythmus.“ Behauptet Life.

So unkompliziert die Menschen, die den Country schufen, so heterogen ist die – riesige – Publikumsgruppe, die ihn heutzutage hört – und aufführt. Country hat derzeit eine ähnliche Vielzahl von Modellen – musikalischen, philosophischen und performativen – anzubieten wie der Pop. Eine Künstlerin an der Grenze zwischen Kind und Frau wie LeAnn Rimes gehört dazu und eine Aktivistin wie die zweifache Grammy-Preisträgerin Kathy Mattea. Im Country finden sich Sexualisierung ebenso wie Varianten links-grüner Emanzipation. Aids-Benefits wie „Red Hot & Country“ koexistieren mit der jährlichen Fan Fair von Nashville. Apropos Nashville: Die Stadt mag immer noch als Herz des Country gelten, aber Country ist längst nicht mehr zwangsläufig dasselbe wie Nashville.

Die konventionell-traditionellen Big-hair-Rollen sind mit Dolly Parton und Reba McEntire dauerhaft und auch ein bißchen langweilig besetzt, doch daneben blühen auf den eigenen Roots und im Crossover, beispielsweise zum Bluegrass, Talente wie die maßlos unterschätzte Alison Krauss. Und dann sind da noch die auch nicht mehr ganz taufrischen New-Countryists: Country, Jumpin'-Jack- Flash-mäßig aufgepeppt für die MTV-Generation – eine Gruppe, deren Binnendifferenzierung inzwischen ohne große Anmaßung mit der des Independent-Bereichs im Pop verglichen werden kann. Ein Querulant wie Lyle Lovett, ein Multimedia-Showstar wie Travis Tritt, dazu an der Peripherie die alternative Band Freakwater. Dann eine Pam Tillis (mit urbanem Kurzhaar-Crop), Patti Loveless, Trisha Yearwood und der Million Seller Garth Brooks – wie paßt das alles zusammen? Roll over Hank Williams?

Country wird universell und „real“

Mary Chapin Carpenter, für mich das (weibliche) Modell des New Country, ist repräsentativ und modern zugleich. Musikalisch kaum traditionell festzulegen, arbeitet sie nicht nur mit dem im Country längst etablierten Rock 'n' Roll und (natürlich) mit der Folk-Tradition, sondern, für Country immer noch ungewöhnlich, mit Soulbläsern und, wenn's explizit ums Große und Ganze gehen soll (Form und Inhalt), auch mit Orchester.

Carpenters Texte sind, was die Geschlechterbeziehungen anlangt, aggressiv und illusionslos. Die Ich- Erzählerin der Songs macht die Anträge und steht zu ihrer bewegten Vergangenheit. Was noch nicht viel sagen will: Feminismus findet man sogar bei blondlockigen Prinzessinnen der alten Heartache- Schule wie Deana Carter. Wenn selbst Carter, eine so erfolgreiche wie durchschnittliche Songwriterin und Sängerin (sie verkauft gegenwärtig die zweitmeisten CDs nach LeAnn Rimes), schon lange nicht mehr „Stand By Your Man“ singt, sondern ungehalten „Did I Shave My Legs For This“ (für stumpfe nurbiersaufende Nurfernsehglotzer nämlich), müssen die Unterschiede feiner und gröber zugleich sein.

Stadt, Land, Fluß, Frohsinn, Blues...

Sie offenbaren sich in einer generell – und überall – sich ändernden Wahrnehmung von Welt, die mit Kategorien wie Land und Stadt, Frohsinn oder Melancholie längst nicht mehr faßbar ist. Reservate, selbst solche wie Nashville, lassen sich schwer konservieren, wenn überall der Boden schwankt. Naturliebhaber kontra Techno- Dschungel, konservative Cowboy- Romantik gegen Moderne? Bei Mary Chapin Carpenter wird am deutlichsten, daß das Land keine „Heimat“ mehr ist, mehr sein muß, und Country universeller wird – vielleicht weil er es werden muß.

„A Place In The World“ hieß Mary Chapin Carpenters 96er Album. Sein Grundthema ist die unbesänftigte Kluft zwischen Visionen und Realität, die Therapie des beschädigten Subjekts in seiner erschreckenden Einsamkeit. Chapin Carpenter schreibt (wie auch Trisha Yearwood – das ist noch die größte Differenz zum „Alternative Country“ und das Verbindendste zum traditionellen Country) Musik bar jeder Zornigkeit, Lieder, die einem nicht ohne Trauer vergeben, wenn aus den großen Dingen des Lebens nichts wurde, die aber auch ermuntern, nicht aufzugeben. Es geht vielmehr ums „real“ sein, „not some old line or rose-coloured dream / Not some other time, you know what I mean / When I tell you that I'm, I'm all that I seem, and that's real“ („That's real“). Und im „real“ kommt letztlich fast jeder mal an.

Gott – heißt er nun gerade Hank Williams oder Patsy Cline – ist dennoch nicht tot in diesen Gefilden. LeAnn Rimes etwa wird als die Vierzehnjährige präsentiert, die „in einem achtzehnjährigen Körper steckt und über die Stimme einer Dreißigjährigen verfügt“. Patsy Cline starb mit 31, doch Rimes nennt, befragt nach maßgeblichen Einflüssen, nicht etwa Cline, sondern Barbra Streisand und Reba McEntire. „Mit Patsy Cline bin ich so oft verglichen worden, daß ich sie wirklich gern kennengelernt hätte. Aber sie ist ja tot.“ Vielleicht ist das sogar Glück für Rimes, die sich wünscht, eines Tages in Vogue zu stehen und im Rolling Stone unschuldig über Eddie Murphy und ihr Lieblingsessen plaudert.

Blue Yodel für Patsy Cline

LeAnn Rimes nahm ihr erstes Album im Alter von elf Jahren auf. Die CD enthielt eine Version von „Blue“, die der Songwriter Bill Mack an Rimes geschickt hatte. Das Lied hatte Mack vor mehr als dreißig Jahren tatsächlich für Patsy Cline geschrieben, doch Cline starb bei einem Flugzeugunglück, bevor sie es aufnehmen konnte. (Die Geschichte wird haarsträubend gruselig im Country Museum von Nashville erzählt: Patsy Cline war unterwegs zur Beerdigung eines Kollegen, als das Flugzeug abstürzte. Hinterbliebene Freunde starben wiederum auf dem Weg zu Patsy Clines Beerdigung.)

LeAnn Rimes sollte den Song erst nicht singen: Er sei zu alt für sie. LeAnn, die ihn unbedingt bringen wollte, verjüngte ihn mit dem „Jodel-Ding“. In einem Duett mit der Legende Eddie Arnold, dem „Tennessee Plowboy“ [=Bauer], sang sie dessen klassischen Hit „Cattle Call“ und reanimierte das „yodel-thing“ endgültig für die Moderne.

Auch bei den Aufnahmen zu ihrer neuen CD fürchtete sich Rimes nicht vor den Schatten der Ahnen. Sie läßt es darauf ankommen, indem sie Clines Klassiker „Blue Moon Of Kentucky“ reinterpretiert. „Der Sound scheint aus der Vergangenheit zu kommen, als wären ein paar Patsy-Cline-Aufnahmen vor fünfunddreißig oder vierzig Jahren verlorengegangen und jetzt wiedergefunden worden. Aber die Stimme ist jung, frisch und modern“, schrieb unter vielen anderen Blättern der Houston Chronicle.

Eintritt frei in Big Countryland

Selbst mit dem Vergeben des eigenen Scheiterns und der Melancholie im Country scheint es so eine Sache. Patsy Cline, im April 1957 vom D & VJ Godfrey gefragt, ob ihr Song „Two Cigarettes In An Ashtray“ nicht reichlich traurig sei, antwortete, daß drei Zigaretten im Aschenbecher ihn auch nicht lustiger machen würden. Vielleicht traut dieser Musik ja keiner zu, daß die involvierten Künstler ziemlich bald zwischen Bühnen-Attitüde und dem ganzen Rest zu unterscheiden wußten, zwischen dem Zusammenbruch von gestern und der Kunst des Zusammenbruchs von heute, um Greil Marcus zu variieren.

Es scheint seltsam, dieses im Deutschland diskursbeflissener Poptheoretiker herrschende interpretatorische Desinteresse an jener Musik, die längst nicht mehr viel mit dem kleinen weißen Mann und seinem Blues zu tun haben muß, vor allem nicht mit einem sich unendlich im Kreise drehenden. Vielleicht hält sich dieses Desinteresse aus Gründen derselben zirkelhaften Arroganz, die die Populärkultur der unteren Schichten, sei es nun Country oder Folk, immer gern ausschloß oder allenfalls als camp-tauglich bewertete. Vielleicht ist es aber auch nur Unwissen, das annimmt, hier geschehe nichts mehr. Ignoranz muß bestraft werden, müssen auch Management und Plattenfirmen denken: Sie schicken ihre Country-Stars, wenn überhaupt nach Deutschland, beharrlich auf die Route Frankfurt–Heidelberg, kaum aber nach Berlin.

Wer einmal seinen Fuß in den Wild Horse Saloon von Nashville, Tennessee, gesetzt hat, weiß, was er bis dato verpaßt hat: Der Sänger ist begabt, 22 Jahre alt (so sagt er) und eine so neue Berühmtheit, daß ihn noch kein Artist Roster verzeichnet. Er heißt John Billy Soundso und dankt Gott, seinen Eltern und seiner jungen Ehefrau. Das Publikum kennt Teenager, Twens, Greise, Kinder, Schwarze und Weiße. Country ist eine Welt, zu der heute jeder Zutritt haben kann, der es will, und – Country ist eine Angelegenheit für Körper: für Line Dancer, Square Dancer und Solotänzer.

Auch Elvis war ein Cowboy

Die Normen für Physis und Outfit sind überraschend fließend. Klar, Cowboy-Boots bei den Herren und rote oder weiße Fransenstiefelchen bei den Damen bleiben die Dauerbrenner, aber sie sind auch teuer. Die Mehrzahl der Tanzenden trägt deswegen einfach Jeans und Turnschuhe. Country scheint heute eine demokratische Angelegenheit. „Keep your chin up and your skirt down“ war Patsy Clines berufliche Devise. Einmal wurde die Frau aus Virginia von ihrem Produzenten Owen Bradley als die „meanest bitch“ beschimpft, die er je getroffen habe. Doch Patsy Cline hat, neben Kitty Wells und Maybelle Carter, mehr als andere dafür getan, daß Frauen im Country heute mehr als in anderen Musikgenres Erfolg haben und viel Geld verdienen.

Ohne Patsy Cline wäre Dolly Parton heute nicht das, was sie ist – eine der mächtigsten Frauen des Entertainments. Elvis Presley war ein Cowboy, und auch Jerry Lee Lewis wurde einer nach dem Skandal (um seine Ehe mit einer Minderjährigen), der seine Rockabilly- Karriere mehr oder weniger beendete. K.D. Lang setzt gern mal den Cowboyhut auf, von Bob Dylan („Nashville Skyline“ und mehr) ganz zu schweigen. Auf den Roots gründen sich objektive und verschiedenste subjektive Landschaften, auch Songs genannt – tasächlich unbegrenzte Möglichkeiten. Tradition, Pop, Rock und Retro- Kultur – komplizierte Fälle wie der LeAnn Rimes' und simplere wie der einer Band wie den Mavericks zeigen das – leben im Country, unter anderem.

Country, behaupten wir, ist was ganz Modernes. Was im deutschen Jugendkulturisten wehrt sich dagegen?