Der lange Weg zum Kondom

■ Am Anfang noch sehr verklemmt und ziemlich hysterisch: Ein Rückblick auf zehn Jahre TV-Spots zur Aidsprävention zeigt den Lernprozeß der Gesellschaft

„Tinaa, wat kosten die Kondome?“ durchschneidet die Kassiererin schrill die Luft im Supermarkt. Sofort herrscht Stille. Die Peinlichkeit lähmt die Kunden für einen endlosen Augenblick. Dann die Erlösung: Zwinkernd und unbefangen ruft eine schöne Blonde den Preis in die Runde: 3,99 DM. Die Pointe liefert die Oma weiter hinten in der Schlange. Souverän korrigiert sie: „2,99 DM, die Kondome sind im Sonderangebot!“ Schnitt. „Kondome schützen. Gib Aids keine Chance.“

Den besten von 70 Fernseh- und Kinospots zur Aidsprävention kennt jedes Kind. Mehrfach ausgezeichnet, ist „Tinaa!“ zum Aushängeschild der Verhütungskampagne geworden. Mit Pfiff hat der Aidsclip die falsche Scham und Sprachlosigkeit gegenüber der Sexualität aufs Korn genommen. Aidsaufklärung at it's best. Das war nicht immer so. Die ersten Spots waren verklemmt, nahmen falsche Rücksichten und verschwiegen die eigentliche Botschaft. So durfte das Kondom anfangs nicht in den Mund genommen werden.

Gestern feierte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Jubiläum: zehn Jahre Aidsspots. BZgA-Chefin Elisabeth Pott ist überzeugt, daß die TV-Botschaften ihren Anteil am Erfolg hatten – die Bundesrepublik hat in Europa mit die niedrigsten Aidszahlen – und daß „viele Menschenleben gerettet werden konnten“.

Die Rückschau auf die Anfänge offenbart die Lernprozesse im Umgang mit HIV. Im März 1987 lief der erste Spot, der noch ganz von der Wucht der Epidemie und den düsteren Prognosen gekennzeichnet war. Vor gekrümmtem Erdhorizont war ein Infizierter zu sehen, dann drei, dann fünf, dann zehn, dann Tausende. Die Lawine rollte. „Aids geht jeden an“, hieß die Botschaft, „handeln Sie verantwortungsbewußt.“ Wie das gehen soll, wurde nicht mitgeteilt.

„Das Kondom war tabuisiert, und wir hatten noch keine Sprache für dieses Thema gefunden“, erinnert sich BZgA-Leiterin Pott. Wie verknöchert die Stimmung damals war und welche Blüten die Aidshysterie trieb, beweist ein Blick ins Archiv. Als Aidsabwehrmaßnahme wollte die CSU allen Ernstes im Fernsehen die Sexszenen verbieten. Der Bundestagsabgeordnete Klaus Rose argumentierte, Sex im Fernsehen animiere „zum Partnerwechsel“: „Das hat Aufforderungscharakter zu vielen Beziehungen kreuz und quer“, verriet er, „unsere Politik ist konservativ und nicht präservativ.“

Erster Star der bis heute kostenlos ausgestrahlten TV-Spots war Hanns Joachim Friedrichs. Im Studio tranken seine Mitarbeiter aus der „falschen“ Tasse des infizierten Kollegen. Macht nichts! Die Botschaft: Im Alltag kann sich niemand anstecken. Während das Kondom weiter auf dem Index stand, konzentrierte sich die TV- Aufklärung auf Solidarität und den Abbau von Ängsten.

Noch zwei Jahre später bekam das Deutsche Aidszentrum Ärger wegen des Latex. Zur Einheitsfete am Jahresende 89 wollte man mit einem Faltblatt – „Vorsicht bei der Wiedervereinigung!“ humorvoll auf Aids hinweisen und Kondome empfehlen. Nach Intervention aus Bonn mußten das Faltblatt geändert, die Kondome beseitigt werden. Doch im selben Jahr war es endlich soweit. Ab 1989 wurden die TV-Spots um den Zusatz „Kondome schützen“ erweitert.

Die Spots veränderten sich, brachen aus der Betroffenheits- und Mitleidsschiene aus. Während die Wissenschaftler auf ihren Kongressen den Holzpenis auspackten um „übers Vögeln“ zu reden, traute sich allmählich auch die BZgA. In Bars und Diskos kamen sich die Akteure der TV-Spots näher, und die Dame verkündete: „Ohne das Ding in meiner Tasche läuft nix.“

Alle Infizierten, die in den Spots auftraten, waren echt. Auch Schwule kamen vor. Allerdings wurden homosexueller Sex und die Injektion von Drogen nie zum Thema gemacht. Die wichtigsten Adressaten der Aidsprävention blieben ausgeblendet. Bis heute. Für „die Schmuddelkinder“ war und ist die Aids-Hilfe zuständig.

Die endgültige Wende brachte der später eingestampfte Spot „Thomas“. Er löste nicht nur Lachsalven in den Kinos aus, sondern auch Proteste. O-Ton des Filmchens: „Das ist Thomas mit Inge, das ist Thomas mit Marion, das ist Thomas mit Ursula ... Und das ist Thomas mit Aids. Verzichten Sie auf Abenteuer. Treue ist der sicherste Schutz.“ Wieder wurde das Kondom ignoriert und in weltfremder Prüderie die Monogamie propagiert. Es war der letzte richtig schlechte TV-Spot.

Und die Serie wird fortgesetzt. „Es gibt keinen Grund zur Entwarnung“, sagt Frau Pott. Ein neuer Spot zum Thema ReiseLust wird gerade gedreht. Manfred Kriener