Giftige Medizin hat Konjunktur

WHO hat 700 Fälle von Arzneimittelfälschungen dokumentiert. Kranke sind auch in Deutschland inzwischen nicht mehr sicher davor  ■ Aus Hamburg Eva-Maria Lecker

Die Statistiker des Arzneimittelwerks Dresden (AWD) waren verblüfft: Bei einer routinemäßigen Marktbeobachtung im vergangenen Jahr stellten sie fest, daß mehr Packungen eines bewährten Herz-Kreislauf-Mittels an Großhändler verkauft wurden, als das AWD im entsprechenden Zeitraum hergestellt hatte. Eine Verwechslung mit Generika war ebenso ausgeschlossen wie statistische Fehler aufgrund von Parallel- oder Reimporten. AWD informierte die Gesundheitsbehörden; das sächsische Landeskriminalamt stellte die manipulierten Medikamente sicher.

„Die Originalpräparate und die Fälschungen enthielten die gleiche chemische Zusammensetzung und waren sich äußerlich täuschend ähnlich. Nur die Wirkstoffdosierung war bei der Fälschung niedriger“, so Michael Respondek, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Dresden. Die Ermittlungen gegen einen hauptverdächtigen Belgier und einen Kaufmann aus Nordrhein-Westfalen laufen noch.

Seit Anfang der achtziger Jahre hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als 700 Fälle von Arzneimittelfälschungen dokumentiert. So wurden in den USA 1985 beispielsweise 1,5 Millionen Antibabypillen beschlagnahmt, weil sie zuwenig Wirkstoffe für eine sichere Empfängnisverhütung enthielten. In Nigeria tauchte 1990 ein mit Lösungsmitteln gestreckter Hustensaft auf: Er kostete 109 Kinder das Leben. 1993 wurde ein türkischer Apotheker verhaftet, als er Medikamente nach Afrika transportieren wollte. „Hauptwirkstoff: Backpulver. Ob Wirkstoffe, Dosierungen, Beipackzettel, Herstellernamen, Verfallsdaten, Verpackungen oder Dokumente über angebliche Qualitätskontrollen – die Fälschungsmethoden im Pharmabereich sind vielfältig.

Die WHO schätzt, daß mindestens sieben Prozent der weltweit verkauften Medikamente betroffen sind, in einigen Ländern wie Indonesien oder Nigeria liegt diese Quote sogar bei 60 Prozent. „Solange wir diese Probleme so weit von uns weg, nur zwischen den Ladentischen von Lagos oder in den Hinterzimmern Bangkoks wähnen, wird sich daran kaum etwas ändern“, meint Christian Berg, Sprecher des German Pharma Health Fund. „Erst wenn die Befürchtungen vieler Experten eintreffen, daß durch Medikamentenbestellungen via Internet auch hier Menschen gesundheitlich gefährdet sind, werden sich Zollfahndungsämter, Bundeskriminalamt und Gesundheitsbehörden ernsthaft mit der Problematik auseinandersetzen.“

Ein guter Nährboden für kriminelle Machenschaften

Alexander Ehlers, Arzt, Rechtsanwalt und Pharmarechtler, hält Arzneimittelgesetz und Kontrollmechanismen in Deutschland immer noch für sehr gut. Aber: „Die Umsatzzahlen in der Pharmaindustrie sind seit Jahren rückläufig. Der finanzielle Druck auf einzelne Leistungserbringer steigt, und mit gefälschten Produkten lassen sich erhebliche Profite erzielen. Erfahrungsgemäß ist dies der ideale Nährboden für kriminelle Energie“, so der Anwalt. Vor einigen Jahren waren die Vertriebswege deutscher Medikamente noch völlig überschaubar: Von der Produktion beim Pharmaunternehmen über die Ausgabe an die Großhändler bis zur Belieferung der Krankenhäuser und Apotheken. Heute werden zunehmend Arzneien in Deutschland hergestellt, im Ausland auf den Markt gebracht und dann kostengünstig wieder reimportiert. Und Privatpersonen bestellen ihre Medikamente zunehmend über Internet. „Das wahre Ausmaß liegt noch im dunkeln“, schätzt Michael Köllstadt vom Deutschen Grünen Kreuz.

Der Umsatz der Fälscher wird heute auf etwa 27 Milliarden Mark pro Jahr geschätzt – ein Grund mehr für Pharmaunternehmen, aktiv zu werden. Als Interpol zwar Geheimlabors in Italien, Spanien und Griechenland entdeckte, es aber nicht schaffte, die Hintermänner ausfindig zu machen, engagierte der Internationale Verband der Pharmazeutischen Industrie Privatdetektive.

Industrie beauftragt Detektive

In der Londoner Agentur Carratu International haben sich 27 Detektive auf den Kampf gegen Fälschungen spezialisiert. Nach bis zu sechs Monaten Vorbereitung begeben sich die Agenten ins Milieu eines Fälschernetzwerkes. Sie treten als Großhändler auf und kaufen bei einem Hersteller ein. Wenn die Ermittlung im Auftrag eines Arzneimittelherstellers abgeschlossen ist, kann der Kunde einen Strafantrag stellen. Doch Strafanträge bedeuten öffentliche Aufmerksamkeit und unterbleiben deshalb häufig – zu groß ist die Angst, daß Kunden ähnlich wie bei Lebensmittelfälschungen mit Panik reagieren.

AWD hat sich zwar anders entschieden. Doch der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit, Bernhard Surms, stellt enttäuscht fest: „Das Schlimmste an der ganzen Angelegenheit ist, daß sie immer noch nicht aufgeklärt ist. Wir wissen weder, welche Organisation hinter der Fälschung steht, wo und wie sie geplant wurde, noch wie die Präparate in unseren Vertriebsweg gelangen konnten.“

Beunruhigten Verbrauchern rät Michael Köllstadt vom German Pharma Health Fund in Frankfurt: „Decken Sie sich vor einer Geschäftsreise mit Ihren Medikamenten aus einer deutschen Apotheke ein. Kaufen Sie im Urlaub nie die Arzneien auf den Märkten oder bei fliegenden Händlern. Und kontrollieren Sie immer, ob die Verpackung beschmutzt oder mangelhaft beschriftet, das Verfallsdatum bereits überschritten ist oder die Chargenummer fehlt.“