Gegen Kollektivschuld für das Politbüro

■ Verteidigung von Ex-Politbüro-Mitglied Günther Kleiber fordert Freispruch. Das SED-Politbüro sei kein „kollektives Machtorgan“ für den Schießbefehl gewesen

Berlin (taz) – Im Prozeß gegen ehemalige Mitglieder des SED-Politbüros enden die Plädoyers der Verteidiger im Gleichklang. Nach dem Anwalt von Egon Krenz hat gestern die Verteidigung des ehemaligen Wirtschaftsexperten Günther Kleiber Freispruch für ihren Mandanten gefordert. Kleiber sei weder detailliert über das Grenzregime informiert noch sei das Politbüro ein „kollektives Machtorgan hinsichtlich des Schießbefehls“ gewesen, erklärte gestern dessen Anwalt Manfred Studier.

Für den 66jährigen Kleiber hatte die Staatsanwaltschaft siebeneinhalb Jahre, für seine beiden Mitangeklagten Krenz und den früheren SED-Bezirkschef von Berlin, Günter Schabowski, elf beziehungsweise neun Jahre gefordert. Ihnen wird Totschlag in mehreren Fällen vorgehalten.

In seinem dreistündigen Plädoyer vor der 27. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts widersprach Kleibers Anwalt Studier der Auffassung, das Politbüro sei ein „monolithischer Block“ gewesen. Vielmehr habe es innerhalb des Gremiums eine klare Arbeitsteilung gegeben. Sein Mandant, der wegen seiner Kenntnisse auf dem Gebiet der Elektronik und durch Zuspruch eines sowjetischen Genossen eher durch einen „biographischen Zufall“ in das Politbüro berufen worden sei, habe sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigt. Aspekte der militärischen Sicherheit und der Grenze seien im wesentlichen im Nationalen Verteidigungsrat (NVR) beziehungsweise von einer kleineren Gruppe um Erich Honecker behandelt worden.

Zwar habe Kleiber dem NVR ab Ende 1988 angehört, doch habe sich das Gremium während seiner Zugehörigkeit nicht mehr mit der Grenze beschäftigt. Im Gegensatz zur Verteidigung des Ex-Staatsratsvorsitzenden Krenz stimmte Kleibers Anwalt der Ansicht der Staatsanwaltschaft zu, die Tötung von Flüchtlingen sei Unrecht gewesen. Er widersprach auch der These der Krenz-Verteidigung, die DDR sei bei der Ausgestaltung der Grenze fremdbestimmt gewesen. Als Kernstück seiner Verteidigung präsentierte Studier eine Rede Honeckers vor dem Nationalen Verteidigungsrat im Mai 1974, in der dieser zum „rücksichtslosen Gebrauch der Schußwaffe“ an der Grenze aufgefordert hatte. Das Dokument, so Studier, mit dem Honecker einen das DDR-Recht überlagernden Befehl zum Töten gegeben habe, sei dem Politbüro nicht zugeleitet worden. Den Vorwurf, Kleiber hätte auf eine Änderung des Grenzregimes drängen können, widersprach Studier. Sein Mandant habe als einzelner dazu keine Macht gehabt. Das hätten „die meisten im Politbüro schon wollen müssen“. Bis zum Krisensommer 1989 sei davon aber keine Rede gewesen, so Kleibers Anwalt Studier. Severin Weiland

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