Die Rettung in Vatergestalt

Warum? Wohin? Und überhaupt: Fragen über Fragen an einem sonnigen Tag – eine Drehreportage zu Tom Tykwers neuem Film „Lola rennt“  ■ Von Gudrun Holz

Nur ein paar Schritte von der Hauptachse entfernt wirkt der Bebelplatz schon ziemlich abgelegen. Vorne, das ist der öde Boulevard Unter den Linden. Hier, an der Stirnseite des Platzes, im Karree zwischen St.-Hedwigs-Kathedrale und Rückseite der Staatsoper, herrscht konzentrierte Emsigkeit, gepaart mit Phasen siestamäßiger Ruhe. Selten schwappt ein Geräusch von der urbanen Imponiermeile herüber, und irgendwo vis à vis verschwimmt die Humboldt- Uni im Gegenlicht. Es ist Ende Juli, und ein Film wird gedreht.

Vor dem imposanten Verwaltungsgebäude alten Stils steht ein Kran. Auf der kassettenartigen Steinfassade, zwischen schmiedeeisernen Fenstergittern hat die Requisite oben auf der mächtigen Pforte einige Schilder angebracht. „Deutsche Transfer Bank“ steht da. Eine Straßenbreite entfernt wird der Kran dirigiert. Die Kamera an dessen Ende kann zoomen, schwenken und wie ein Teleskop ausfahren. „Ruhe bitte und Handys aus, das gilt für alle“, schnappt die Aufnahmeleitung. Alle Aufmerksamkeit ist auf den Eingangsbogen gerichtet, der Kamerakran hält drauf zu. Eine zweite Kamera nimmt das Ganze von links auf. Klappe. Regisseur Tom Tykwer, im wandernden Pulk aus Kameraleuten, Tonmeisterin und Produktionsassistenten, winkt unzufrieden ab. Alle zurück auf ihre Plätze.

Zuerst nur punktgroß, kommt von rechts ein zyklamfarbenes Etwas näher. Eine junge Frau mit roten Haaren, die auf den Schnittpunkt der Kameras zuspurtet. Franca Potente bleibt stehen. Keucht und brüllt mit hängenden Schultern „Paapaaa!“ Das Tor geht auf, eine untersetzte Figur tritt heraus. Man kann es aus der Entfernung zwar nicht hören, aber der ölige Mann in Wachschutz- Uniform (mürrisch: Armin Rohde) gibt der jungen Frau mit süffisant verzogener Miene eine abschlägige Antwort. Kein Papa da. Warum rennt diese Frau diese Strecke gut ein dutzendmal, bis Tontechnik und Regie zufrieden sind, warum rennt sie überhaupt?

Es geht um Geld. Sechsstellig. Die junge Frau im blauen Achselhemd (Franca Potente aus „Nachts um vier im Urwald“) soll Lola heißen, einen Freund namens Manni haben und für den, wie es Liebende oftmals tun müssen, einige Kartoffeln aus dem Feuer holen. Alles in zwanzig Minuten und im Sprint. Kein Kurzfilm, ein Spielfilm an Berliner Originalschauplätzen. Lola sei laut Drehbuch-Bio jemand mit Vorbildern wie Sophie Scholl, Pippi Langstrumpf und Simone de Beauvoir (autsch!), erzählt Franca Potente später während einer kurzen Drehpause. Bisher wirkt sie in den wenigen Szenen beruhigenderweise eher wie eine noch unausgelastete Roadmovie-Figur. Immer unterwegs von A nach B, keine Atempause vorgesehen. Schicksalhaft, unter dramatischen Umständen werde sich die Handlung fortsetzen, ergänzt Potente. Mehr wird nicht verraten, da sei die Sperrfrist vor.

Pause also. Sonnenschirmschatten. Plausch. Mediterrane Brisen wehen über den Platz, die Damen von der Maske, versprengte Sightseer und einige Presseleute stehen in kleinen Grüppchen beisammen. Die nächste Szene steht an, gerade werden die Vorbereitungen für die nächste Einstellung arrangiert, wird mit Belichtungsmesser und Maßband hantiert.

Moritz Bleibtreu, der den „Manni“ spielt, ist heute nicht da. Auch Joachim Król („Wir können auch anders“) ist heute nicht am Set. Dafür pirscht Herbert Knaup, besetzt als Bankdirektor und Vater von Lola, mit eingeklemmtem Aktenmäppchen über das Trottoir. Während dieser „Hallo, Chauffeur“ winkt und einsteigt, ereignet sich damit just wieder so ein bewußtes Drehbuchmoment, wo Marathonheldin Lola – gerade noch zum Greifen nah! – die Rettung in Vatergestalt durch die Lappen geht.

Es ist immer noch heiß, das Auto mit Herbert Knaup drin springt nicht an. Der graublaue Wagen mit französisch tiefliegendem Chassis bockt auf, säuft ab. Bockt auf, säuft ab. Noch mal, Franca Potente nimmt wieder Anlauf, die feinkarierte hellgrüne Hose ist schon etwas mitgenommen. Der Kameramann Frank Griebe, auf eine Sackkarre geschnallt, rollt heran, hinter ihm im Gänsemarsch die Helfer, kabeltragend, mikrophonhaltend.

Als die Szene endlich abgedreht ist, setzt sich Tom Tykwer auf den Bordstein. Eben ein paar Strähnen aus der schmucken Stirn schiebend, erzählt er, „Lola rennt“ solle vor allem eine Liebesgeschichte der Zufälle in den Straßen von Berlin werden, ein „Liebesactionfilm“. Tykwer, Berliner Filmregisseur („Die tödliche Maria“), Kinomacher („Moviemento“) und Mitbegründer des „X-Film“-Labels plant mit „Lola“ einen Konzeptfilm „über die Zufälligkeiten des Lebens“ einerseits und die „Möglichkeiten des Kinos“. Daher wird mit verschiedenen Varianten gearbeitet, sowohl was die Erzählweise als auch den Verlauf Szene für Szene angeht. Kein Epos, sondern ein Spiel mit Erzähl- und Realzeiten. Damit geht Tykwer wohl bewußt auf Distanz zum Prinzip komplex angelegter Filmstoffe (auch eigener), weniger Introspektion, mehr Experiment. Ob man das Kino so gutgelaunt verlassen wird wie den malerischen Drehort an diesem Tag, wissen wir zum Filmstart im Frühjahr.