Im Garten liegen tote Fische

Die Tschechen räumen auf: Nach der anfänglich scharfen Kritik an den Behörden können die Flutopfer nun auf deren Unterstützung hoffen – und auf die Solidarität ihrer Landsleute  ■ Aus Olomouc und Otrokovice Christian Semler

Es war die Nacht vom 8. zum 9. Juli in Lazce, einem nördlichen Vorort des mährischen Olomouc, im zweiten Stock eines der Hochhäuser realsozialistischen Angedenkens. Jiři Jurik saß wie gewöhnlich vor seinem Computer, ließ das Radio dudeln und besserte sein Lehrergehalt mit Übersetzungen auf. Um 11.30 Uhr fiel der Strom aus. Jiři irrte eine Weile in der Wohnung umher und öffnete dann das Fenster. Keinen Meter unter ihm breitete sich überall die Brühe aus. Als der Morgen graute, war von Lazce nichts mehr zu sehen.

Wie Jiři erging es Tausenden in Lazce und dem nördlich angrenzenden Černovir, einst ein Dorf, jetzt ein Arbeiterviertel, wo viele Familien noch ihre Gärten bestellen samt dazugehörigem Kleinvieh. Bozena Snoblova schleppt trotz ihrer 75 Jahre Möbelreste und Trümmer aus dem Haus, das bis zur Katastrophennacht sieben Menschen aus drei Generationen beherbergt hatte. Als die Flut kam, ging die Familie gelassen zu Bett, um während der Nacht auf den höchsten Punkt des Hauses zu flüchten. Erst gab der Lehmbau nach, dann der benachbarte Ziegelbau. Vier Generationen lang war das Haus im Familienbesitz gewesen. Nichts ist Bozena Snoblowa geblieben, kein Foto, kein Erinnerungsstück. Die Obstbäume sind erledigt, im Garten blieben nach dem Rückgang des Wassers ein paar tote Fische zurück. Nur einer riesigen blauen Klematis ist die Flut offensichtlich gut bekommen.

In Černovir sind fünfzig Häuser verloren, über drei Wochen nach der Katastrophe steht in den Kellern vieler intakt gebliebener Häuser noch Wasser, Moskitos machen die Aufräumarbeiten zur Qual. Die meisten der geflüchteten bzw. evakuierten Menschen halten es in ihren Notunterkünften tagsüber nicht aus, sie schleppen verrottete Möbel auf die Straße, reißen Balken aus den Ruinen, helfen den Soldaten beim Abriß. Was jetzt nottut, ist nicht mehr karitative Hilfe, sondern Baumaterial – und Geld. Die Regierung hat maximal 30.000 Kronen pro Haushalt zur Verfügung gestellt. Die Instandsetzung würde das Zehn- bis Zwanzigfache kosten – an Neubau ist finanziell nicht zu denken.

Die erste Welle (eine zweite folgte anderthalb Tage später) hatte die Vorstellungskraft der Bezirksverwaltung bei weitem überfordert. Die letzte Flut von 1981 war von einem Wald nördlich von Olomouc abgebremst worden, der Schaden blieb geringfügig. Zwar hatte man jetzt den Notstand proklamiert, aber was der praktisch bedeuten sollte, wußte niemand. Es gab weder Einsatz- noch Evakuierungspläne. Zwischen der ersten und der zweiten Welle strömten Tausende von Olomoucern vor allem aus der höhergelegenen, sicheren Altstadt zum ummauerten Flußbett der Morava herunter. Aber der Fluß brach tückisch aus seinem Bett aus, bahnte sich einen neuen Weg und fiel den Flut-Zuschauern in den Rücken.

Was die Regierung im Land und im Kreis vor der Flut versäumt hatte, holte sie nach der ersten Welle mit einer Gewaltanstrengung nach. Der nationale Krisenstab wurde von Prag nach Olomouc verlegt, Abteilungen der Stadtverwaltungen bezogen in den Katastrophengebieten Quartier, die Armee und die Hilfsverbände rückten ein. So auch in Černovir, wo ein halbes Dutzend Angestellter sich in einer Grundschule eingerichtet hat, umgeben von Lebensmittelbergen, Schaukarten und medizinischem Gerät. Hier, mitten im Elend, kümmern sich ein Dutzend Leute um Verpflegung, Notunterkünfte und bearbeiten Anträge auf die erste Überbrückungshilfe von 3.000 Kronen.

Obwohl auch hier, wie im benachbarten Polen, Klagen gegen die Behörden beim Gericht wegen der unterlassenen Warnung eingereicht werden, ist der große Zorn der ersten Tage verflogen. „Wer hat sich das schon vorstellen können“, meinen nachsichtig die Männer, die sich unter den Armee-Duschen den Dreck vom Leib waschen. Die städtischen Angestellten in Černovir verschweigen nicht die massive Kritik, „aber jetzt sind wir eine große Familie“. Eine abgedroschene Phrase, aber angesichts der allgemeinen Solidarität nicht ganz unberechtigt. Diese Solidarität zeigt sich nicht nur in Sach- und Geldspenden und freiwilligen Arbeitseinsätzen. Die Tschechen stehen vor den Banken an, um die Staatsanleihe zu zeichnen – und das bei einer Verzinsung unterhalb des Inflationsniveaus. Niemand, insbesondere die Regierung nicht, hat mit diesem Erfolg gerechnet.

Fünfzig Kilometer von Olomouc entfernt, am Zusammenfluß von Morava und Drevnice, liegt Otrokovice, ein gestaltloses, modernes Städtchen, bekannt nur durch seine Nähe zu Zlin, von wo aus der Schuhkönig Tomas Bata nach dem Ersten Weltkrieg sein weltweites Imperium aufbaute. In Otrokovice entstand in den dreißiger Jahren eine Siedlung für die Bata-Arbeiter in schmuckem Ziegelbau, nach dem Gründer-Patriarchen und „heimlichen Diktator“ Batov genannt. Unglücklicherweise liegt die Siedlung, zusammen mit einem Chemie-Komplex, zwischen zwei Dämmen. Als die erste Welle Batov überschwemmte, wagte man es nicht, den südlichen Damm zu sprengen, weil befürchtet wurde, die Wassermassen seien chemisch kontaminiert. So stand die Brühe fast drei Wochen lang. Das deutsche Technische Hilfswerk setzt hier Pumpen ein, senkt das Grundwasser ab, säubert die Kanalisation. Tschechische freiwillige Feuerwehrleute verfluchen nachträglich die Realsozialisten. Sie hätten die Kanäle niemals gereinigt, weshalb der Abfluß bei der Flut unterbrochen worden wäre.

In Otrokovice mangelt es nicht an Freiwilligen, allein über 60 Studenten mühen sich, die 6.500 evakuierten Einwohner der Siedlung zu unterstützen. In einem schon ausgeräumten Haus stehen zwei schweißgebadete amerikanische Mormonen unter dem Kommando des Hausherrn, gewiß kein „Heiliger der letzten Tage“. Die beiden Missionare haben auf allen religiösen Agitprop verzichtet und reißen Batas ruiniertes Parkett aus dem Wohnzimmer. Der Eigentümer, Arbeiter in der chemischen Industrie, weiß nicht, ob sein Betrieb das Hochwasser überstehen wird. Und wo das Geld für einen Renovierungskredit herkommen soll. Die Mormonen muntern ihn auf – voll Gottvertrauen. Nächste Woche will die Regierung Klaus neue Hilfsgesetze beschließen.

Ein paar Schritte weiter liegt das Heim für geistig behinderte Kinder, das die Organisation „Naděje“ (Hoffnung) unterhält. Die vierzig Bewohner mußten überstürzt evakuiert werden, einige der älteren sind traumatisiert. Die Einrichtung, die medizinischen Geräte, der kleine Besitz der Kinder – alles dahin. Psychologen haben empfohlen, die Kinder bald in die vertraute Umgebung zurückzubringen. Aber wer soll für die Renovierung des Heims aufkommen?

Jeder der Nebenflüsse der Morava ist heute mit einer schrecklichen Geschichte verknüpft. Im Gebirge rissen sie Brückenpfeiler ein, entwurzelten Bäume, schwemmten Bauernhäuser weg. Im Tal, in der fruchtbaren Hanna- Ebene, wo schwere Landmaschinen die Ackerböden während mehrerer Jahrzehnte verdichtet hatten, vereinigten sie sich mit der Morava zu riesigen Seen. Aber keiner der Flüsse hat eine so grauenvolle Erfolgsgeschichte hinter sich wie die Becva. In Troubky zerstörte der Fluß die Hälfte aller Häuser, oftmals Lehmbauten, mehrere Menschen kamen ums Leben. Der Ort ist heute militärisch abgeriegelt, die Armee beherrscht die Szenerie. Troubky ist zu dem Symbol der Flutkatastrophe geworden.

Auch hier kehren die Einwohner tagsüber zurück, um bei der Räumung, öfter aber beim Abriß ihrer Häuser zu helfen. Die Leute sind angespannt, bislang ist keine Finanzhilfe eingetroffen. Selbst das Bier, das die Regierung in zwanzig Fässern anrollen ließ, wird kaum angerührt. Mehr Zuspruch erfährt der wieder geöffnete Friseur, der allerdings nur schneiden kann, fürs Waschen und anschließende Ondulieren fehlt es an warmem Wasser. Ein Rentner hat eine Gallone selbstgebrannten Slivovitz aufs Dach gerettet. „Aufs Wohl!“ – einen Augenblick lang lebt die Völkerfreundschaft hoch. Der Slivovitz-Eigner holt zwei schwedische Journalisten zu sich aufs Dach. Immerhin liegt die letzte kriegerische Auseinandersetzung der Böhmen mit den Skandinaviern gut 350 Jahre zurück.

Für die Tschechen ist Solidarität das beherrschende Erlebnis während der Zeit der Katastrophe. Aber im Gegensatz zu Polen, wo sich die improvisierte nachbarschaftliche Hilfe, die örtlichen und regionalen Unterstützungsnetze gegen die Warschauer Zentrale richteten, erwachte hier ein Bürgersinn, der bei scharfer Kritik an den Versäumnissen der ersten Tage die staatlichen Institutionen einschließt. Dieses Gefühl hat nichts mit einem verschwiemelten „Ich kenne keine Parteiungen mehr, ich kenne nur noch das Hochwasser“ zu tun, sondern mit jener nüchternen, republikanischen Haltung, für die Tomas Garrigue Masaryk, der Staatsgründer, stand. Dieser Republikanismus blieb nicht nur auf die alteingesessenen tschechischen Bürger beschränkt. Die von der Flut verschonten Brünner staunten nicht schlecht, als letzte Woche Angehörige der Roma-Vereinigung ausschwärmten, um für die Opfer des Hochwassers zu sammeln. Diesen Samstag soll ein großes Solidaritätsfest steigen – und dies, obwohl mancherorts in den Hochwassergebieten Roma von der Hilfe ausgeschlossen und der Plünderei verdächtigt worden waren.

Im Refektorium des ehemaligen, heute zum Museum umfunktionierten Klarissinnen-Stifts zu Olomouc tagen letzten Montag unter der Leitung des Umweltministers Skalicky Experten und Regierungsvertreter der Bezirke. In der – öffentlichen – Sitzung geht es um Wasserversorgung, Eisenbahnlinien, staatliche Förderung für den Bau neuer Häuser im Katastrophengebiet. Wird die Regierung die Gelegenheit nutzen, um unrentable Eisenbahnlinien und defizitäre, von der Flut überschwemmte Staatsbetriebe zu schließen? Davon ist nichts zu hören. Ebensowenig wie vom Zynismus derer, die sich vom Hochwasser hauptsächlich einen kleinen Antrieb für die Konjunktur versprechen. Während in Prag die Parteienkonfrontation wegen eines Panzerexports nach Algerien schon wieder voll angelaufen ist, herscht in Olomouc in diesen Tagen noch flutbedingte Eintracht.