Die Capulets von der Lüssumer Heide

■ Die Regisseurin Christina Friedrich inszeniert mit Nord-Bremer Jugendlichen Shakespeares „Romeo und Julia“/ Deren Herkunft: Ein hartes Pflaster / Deren Attribut: „Polizeibekannt“

Die Capulets und Montagues aus Shakespeares „Romeo und Julia“heißen Celiks und Möllers und leben in Bremen-Nord, Ortsteil Lüssumer Heide, sozialer Brennpunkt, hartes Pflaster. Wie bei den Familien aus der Dramenvorlage ist auch bei den – erfundenen – Celiks und Möllers die niemals ohne Verluste an Leib und manchmal auch an Leben zu verteidigende Ehre der Maßstab aller Dinge. Arbeitslosigkeit, Langeweile und Kriminalität verschärfen die Lage, die verdammt hoffnungslose. Schluß, aus, Ende, Vorhang und – ein Zeilenwechsel für einen neuen Anfang, der beginnt mit: Trotzdem.

Denn trotzdem hat sich eine Handvoll Tatmenschen um die Hausregisseurin am Bremer Stadttheater, Christina Friedrich, etwas nahezu Unmögliches vorgenommen: Mit Sprößlingen der Nordbremer Capulets und Montagues Shakespeares „Romeo und Julia“zu inszenieren. „Ganz ohne pädagogische Absicht“, wie Christina Friedrich nur betont, weil ihr die dumme Frage gestellt wird – „sonst hätte ich ja eine Grundschule eröffnen können.“

Fünf Jahre, sagt sie, habe sie in geschlossenen Räumen gearbeitet, drei davon am Bremer Theater, wo sie Kushners „Engel in Amerika“, Büchners „Woyzeck“und Burgess' „Clockwork Orange“auf die Bühne brachte. Der geschlossene Raum hat einen Doppelsinn: Den des tendenziellen Inzuchtbetriebes Theater und den des Bremer Phänomens namens Viertel. Die Arbeit am „Clockwork“immerhin brachte ihr den Türöffner: Für das „Romeo und Julia“-Projekt lehnte sie einen Regieauftrag am Berliner Maxim-Gorki-Theater ab, nahm sich eine Auszeit am Bremer Theater und brach nach eigenen Worten auf zu einem „anderen Kontinent“: Lüssumer Heide.

Im Frühjahr hat „dort oben“ein Mann einen Jugendlichen und dessen Vater erschossen, weil sie die Ehre der Familie verletzt hatten. Dafür genügte, daß sich der Jugendliche mit der Tochter des Schützen im Klassenzim-mer eingeschlossen hatte. Diese Tötung war einschrecklicher Höhepunkt in einer Vielzahl von sozialen Konflikten und zugleich ein überflüssiger Beweis: Dafür, wieviel Shakespeare und „Romeo und Julia“mit heutigem Leben zu tun haben kann, auch wenn die deutsche Übersetzung von den zehn schauspielenden unter den 18 jugendlichen TeilnehmerInnen des Projekts erlernt werden muß wie eine Fremdsprache.

Von „stark reagierenden Chemikalien“spricht Jörg-Martin Wagner, den Christina Friedrich als musikalischen Leiter gewonnen hat. Erstmal harmlos ist die Vorlage, die zunnächst nur den Konflikt beschwört, daß alle entweder Romeo oder Julia spielen wollen. Weniger harmlos sind die beteiligten Theaterprofis – neben Christina Friedrich noch die Bühnen- und Kostümbildnerinnen Heidrun Schüler und Andrea Kannapee sowie der Co-Regisseur Thomas Stich – mit ihren Profiansprüchen, ein Stück auf die Bühne zu bringen. Und noch weniger harmlos sind die 15- bis 18jährigen Jugendlichen selbst, deren Pässe unterschiedliche Nationalitäten ausweisen und die fast alle mit dem Attribut „polizeibekannt“herumlaufen.

„Da ist so viel Langeweile“, sagt der scheidende Jugendbeauftragte der Bremer Polizei, Wolfgang Merdes, den Christina Friedrich auch für das Projekt begeistert hat. „Aus der Langeweile fällen sie ihre Entschlüsse zu Aktionen – und viele davon sind kriminell“, fährt der Polizist mit der viel zu seltenen Vorliebe für Prävention fort. „Sie ist nicht meßbar, heißt es immer, doch das ist Unsinn – bei diesem Projekt ist Prävention ganz genau meßbar.“Kein Wunder, daß er – resigniert – viele dieser Projekte fordert. „Romeo und Julia“als Sozialarbeit? „Irgendwie ja“, antwortet Wagner. Als Kunst? „Ja, das vor allem.“Die Kompromißformel: „Eine soziale Plastik á la Beuys.“

Und die soziale Plastik reagiert empfindlich. Nicht ohne Respekt spricht Jörg-Martin Wagner von der Direktheit der Jugendlichen: „Die haben eine Lebenserfahrung machen müssen, die ich mir in dem Alter gewünscht hätte.“Doch die Direktheit kennt ihre Tabus: Körperliche Gewalt ist etwas Alltägliches, und einmal ist Wagner nur knapp einer „Kopfnuß“entgangen. Doch die Regieanweisung, nach der sich Romeo und Julia auf der Bühne berühren, war nicht durchsetzbar. Ohnehin treffen da ziemlich rigorose Charaktere aufeinander, wenn sie in einem Nord-Bremer Freizeitheim, in den Probebühnen des Bremer Theaters oder im Kulturbahnhof Vegesack ihren Shakespeare einstudieren. „Du mußt immer damit rechnen, daß die mal für eineinhalb Stunden verschwinden“, sagt Wagner. Er und Christina Friedrich haben heimlich Strichlisten geführt, um die Engagiertesten und – ja – Diszipliniertesten auszuwählen. Die, die dabei geblieben sind, haben trotzdem Angst, sich zu blamieren. Doch die achtköpfige Musikgruppe hatte schon einen Auftritt, sagt Wagner, und es gab Beifall dafür. „Das hat sie erst richtig motiviert.“

Und wie finanzieren Friedrich und Co. das Ganze? Ungezählte Sponsoren wie das Bremer Theater, die Telekom, ein Menübringdienst oder die Polizei haben geholfen. Die „Bullen“haben zum Amüsement der Kids sämtliche Transportfahrten übernommen. Auch Bürgermeister Henning Scherf und sämtliche SenatorInnen hat Christina Friedrich angesprochen. Sie haben alle finanzielle Hilfe zugesagt. Am Anfang. Im Frühjahr. ck

Die Premiere von „Romeo und Julia“geht voraussichtlich am 20. September im Kulturbahnhof Vegesack über die Bühne; weitere Aufführungen im Concordia und im Schlachthof sind geplant