Die Rechtschreibreform ist längst gescheitert, auch wenn die Gerichte später noch zu anderen Ergebnissen kommen. Nach einer kurzen Phase des Nörgelns unter weitgehendem Verzicht auf politische Lobbyarbeit sind die Reformgegner zu systemkomp

Die Rechtschreibreform ist längst gescheitert, auch wenn die Gerichte später noch zu anderen Ergebnissen kommen.

Nach einer kurzen Phase des Nörgelns unter weitgehendem Verzicht auf politische Lobbyarbeit sind die Reformgegner zu systemkompatiblen Widerstandsformen übergegangen und behelligen mit der nötigen Kompetenz Gerichte und Institutionen.

Eine Lektion im Klassenzimmerkampf

Nach dem Verwaltungsgerichtsurteil von Hannover gegen die Einführung der Rechtschreibreform steht es 2:2 unentschieden. Während ein Mainzer Verwaltungsrichter die Rechtschreibreform nicht als bildungs- und schulpolitische Grundsatzentscheidung von wesentlicher Bedeutung auffaßt, sehen das ein niedersächsischer und ein hessischer Kollege anders. Die Kultusminister seien nicht befugt, die Schreibregeln zu ändern. Die Belange des Schreibens und Sprechens überragen die Kulturhoheit der Länder.

Soviel zum juristischen Ballspiel. Das Dumme ist nur, daß niemand so recht weiß, wie lange noch und was überhaupt gespielt wird. Die schöne Folgenlosigkeit, an der wir uns beim Fußball ergötzen können („Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“), soll ja gerade nicht für das richterliche Urteil, in diesem Fall zur Schreibreform, gelten. Und doch ist es so. Wer gelegentlich in der Woche liest, die bekanntlich nach den Regeln der Rechtschreibreform redigiert wird, sucht verzweifelt nach Abseitsfallen, in die er mit seinem sensiblen Leseempfinden laufen könnte. Allenfalls findet er hier und da ein schnödes dass, das er mangels ß auf seiner amerikanischen Schreibmaschine selbst immer schon benutzen mußte.

Dabei war der Ausgangspunkt des Reformwerks einmal der erziehungspolitisch verbrämte Satz: Ihr sollt es einmal besser haben. Mit einer vereinfachten Schreibordnung sollten eben jene Schranken überwunden werden, die ein verknöchertes Gesellschafts- und Bildungssystem errichtet hatte. Es gehörte schon damals sehr viel angestrengter Ideologiezwang dazu, in der Großschreibung ein bedeutsames Herrschaftsinstrument und die Verhinderung von Chancengleichheit zu entdecken.

Aber das war der Ton, in dem gesprochen und dessen Klang an den reformierten Hochschulen erzeugt wurde. Derlei Reden waren keineswegs auf den deutschen Reformgeist beschränkt. Sie gipfelten vielmehr in dem Satz des französischen Semiologen Roland Barthes: „Sprache ist ganz einfach faschistisch.“ In diesem Fall hätte auch eine Reform nichts ausrichten können.

So wie die Rechtschreibreform politisch ausgedacht war, hätte sie der umfassenden Bildungsreform der siebziger Jahre vorangehen sollen. Im Klima des sozialdemokratischen „mehr Demokratie wagen“ wäre ihre Umsetzung vermutlich auf wenig Widerstand gestoßen. Vielleicht gälte sie heute sogar als Musterbeispiel für Reformpraxis. Aber während die Öffnung der höheren Schulen für Arbeiterkinder bereits Ende der sechziger Jahre in der Provinzstadt ohne Probleme praktiziert wurde, blieb die Rechtschreibreform als aufschiebbares Projekt in Kommissionen stecken. Das war am Ende keine Bildungskatastrophe. Das Machbare war auch das politisch Effiziente. Daß heute 30 Prozent eines Jahrgangs das Abitur machen, sei der maßgebliche Beitrag zu einer gründlichen Demokratisierung der Bundesrepublik gewesen, schrieb kürzlich Katharina Rutschky (taz vom 5. August). Einen solchen Beitrag hätte eine politisch korrekte Erneuerung der Schreibregeln wohl kaum leisten können.

Das politische Klima, in dem heute um die Rechtschreibreform gestritten wird, ist ein anderes als in den kurzen Sommern des nachholenden sozialen Wandels. Vor dem Horizont des mit Abstiegsangst drohenden Wandels erscheint der Kampf um die Rechtschreibreform heute als ein Klammern an eine gute alte Zeit. Ein trotziges Klammern gewiß, aber keineswegs ein verzweifeltes. Nach einer kurzen Phase des Nörgelns unter weitgehendem Verzicht auf Politikanteile sind die Reformgegner zu systemkompatiblen Widerstandsformen übergegangen und behelligen mit der dazu nötigen Kompetenz die Gerichte und Institutionen.

Soviel Beharrlichkeit muß nerven. Lehrer Friedrich Denk, den man als Mann der Rechten zu outen versuchte, hat vorgemacht, wie man mit Anrufbeantworter und Faxgerät die Kultusminister zum Rotieren bringt. Jetzt ziehen allerorten aufgeschreckte Eltern nach und erwirken Urteile für ihre Kleinen, die eben nicht durch Entscheide in zweiter Instanz noch vor der Sommerpause korrigiert werden können. Das Reformwerk ist längst gescheitert, auch wenn die Gerichte später noch zu anderen Ergebnissen kommen.

Das Scheitern ist allerdings nur bedingt auf das Regelwerk zu beziehen. Was die Reformgegner in ihrem aufwendigen Tun beflügelt, ist keineswegs Ausdruck politischer Entschlossenheit, allenfalls der eines in die Alltagspraxis herabgesunkenen Verständnisses demokratischer Spielregeln. Im Widerstand gegen die Rechtschreibreform äußert sich eine öffentliche Elitenkritik. Grassierende Politikverdrossenheit wird dem Versagen der politischen Klasse angelastet, und die „Nieten in Nadelstreifen“ macht man gerne für das Abrutschen Deutschlands auf den wirtschaftlichen Ranglisten verantwortlich. Die Rechtschreibreform wiederum diente bisweilen als Argument zum Wiederanschluß an den internationalen Wettbewerb.

Bundespräsident Herzog beschwor in seiner Adlon-Rede die Umsetzungsprobleme der Funktionseliten, und die ZEIT prangerte die neue deutsche Lethargie an. Aber träge und antriebsarm ist ja gerade nicht, wer mit juristischer Kompetenz wegen ein paar Kommata den Aufstand probt. Das ist die Lektion im Klassenzimmerkampf: Politisch wirkt man in diesen Tagen nicht mit der Reflexion über herrschaftsfreie Diskurse, sondern durch beharrliche Verfahrenspraxis, mit Schriftsatz und Berufungsverfahren. Harry Nutt