Strafexpedition zur inneren Sicherheit

■ Aller Mahnungen der US-Regierung und ihres Vermittlers Dennis Ross zum Trotz: Israels Premier Netanjahu demonstriert gegenüber den Palästinensern das, was ihm am meisten liegt: Härte und Entschlossen

Strafexpedition zur inneren Sicherheit

Einen ersten Erfolg hat der diplomatische Pendelverkehr von US-Vermittler Dennis Ross gebracht. Nach einer Meldung des israelischen Radios wurde die Sicherheitskooperation zwischen Israel und den Palästinensern gestern auf hochrangiger Ebene wiederaufgenommen.

Ross war am ersten Tag seiner Mission gleich zweimal zwischen Jerusalem und Ramallah hin- und hergereist, um mit Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Jassir Arafat zu konferieren. Der Sonderbeauftragte Ross selbst erklärte, daß die US-Regierung ihn ausdrücklich deshalb in die Region entsandt habe, um die Sicherheitskooperation wiederherzustellen. Allerdings räumte er ein, daß auch andere wichtige politische Fragen offenstünden. Dazu rechnen die Palästinenser vor allem die Abriegelung ihrer Gebiete.

Dennoch erklärte ein Arafat- Berater nach den Gesprächen mit Ross, daß die Tür zu dem geplanten Besuch von US-Außenministerin Madeleine Albright Ende dieses Monats nur aufgestoßen werden könne, wenn der Sicherheitsfrage höchste Priorität eingeräumte wird. Ein Berater Netanjahus erklärte, daß Verhandlungen über andere bilaterale Fragen erst wiederaufgenommen würden, wenn ein Austausch von Informationen stattgefunden habe, der zur Festnahme von palästinensischen Terroristen führe.

Israels Premier Netanjahu hatte nach dem Attentat vom 30. Juli auf dem Mahaneh Jehuda Markt in Jerusalem von Palästinenserpräsident Jassir Arafat einen „hundertprozentigen Einsatz gegen den Terror“ gefordert. Bis jetzt haben die israelischen Sicherheitskräfte die genaue Identität der Täter und die Herkunft des Sprengstoffs noch nicht geklärt. Doch geht der Sicherheitsdienst nach Angaben des israelischen Armeesenders nach wie vor davon aus, daß die Täter aus dem Westjordanland stammen.

Als einen Tatverdächtigen nannte der Sender einen Chemiestudenten aus Nablus. Die Familie weigere sich allerdings, eine DNA- Analyse vornehmen zu lassen, weil das israelische Militär bei einer Bestätigung des Verdachts das Haus der Familie zerstören würde. Der Sicherheitsdienst muß deshalb eine Verfügung des israelischen Obersten Gerichtshofes erwirken.

Palästinensische Sicherheitsdienste gehen dagegen nach wie vor davon aus, daß der Anschlag in Jerusalem nicht von Hamas, sondern von der schiitischen Hisbollah geplant und durchgeführt wurde – und das mit iranischer, nicht mit syrischer Billigung. Dafür spreche, so palästinensische Quellen, daß fast jede Spur, die die Täter hätte identifizieren können, sorgfältig vernichtet worden sei. So seien selbst die Etiketten aus der Kleidung der Täter herausgeschnitten worden. Dafür spreche ferner die Art des verwendeten Sprengstoffs, der palästinensischen Gruppen nicht zur Verfügung stehe. Auch habe keine palästinensische Familie, wie sonst üblich, ein Trauerfest zu Ehren der „Märtyrer“ abgehalten. Das Bekennerschreiben von Hamas wurde von palästinensischer Seite in Diktion und Sprachgebrauch als plumpe Fälschung bezeichnet. Hisbollah hat diesen Verdacht allerdings entschieden zurückgewiesen und Arafat beschuldigt, „gemeinsam mit dem zionistischen Gebilde“ eine Kampagne gegen die Organisation zu führen.

Ohne Zweifel trifft Netanjahu die Stimmung der breiten Mehrheit in Israel, wenn er die Frage der Sicherheit und den Kampf gegen den Terrorismus ins Zentrum seiner Politik rückt. Und Netanjahu demonstriert gegenüber den Palästinensern das, was ihm am meisten liegt: Härte. Obwohl sich seine eigene Wahlkampfparole von „Frieden durch Sicherheit“ auf dem Mahaneh Jehuda Markt buchstäblich in nichts auflöste, hat Netanjahu in der israelischen Öffentlichkeit an Statur gewonnen. Seine markigen Worte, mit denen er die Autonomiebehörde für ihr vermeintliches Versagen im Kampf gegen den Terrorismus geißelte, und seine Verbalattacken gegen Palästinenserchef Arafat persönlich zeigten seiner Wählerschaft und seinen Koalitionspartnern wieder den „Bibi“, den sie aus dem Wahlkampf kannten: rüde, entschlossen, unbeirrbar und stark. Netanjahu, der in den ersten 14 Monaten seiner Amtszeit von einer Kabinettskrise in die andere, von einem Skandal in den nächsten geschlittert war und der in der israelischen Presse als „Lügner“ angeprangert wurde, hat von dem Anschlag erst einmal profitiert.

Dabei unterscheiden sich die Maßnahmen, die er ergriffen hat, nicht nennenswert von denen, die die Arbeitspartei unter Rabin und Peres nach derartigen Anschlägen immer in Gang setzten: ein Großaufgebot von Polizei und Militär an öffentlichen Plätzen, Märkten und Bushaltestellen in Israel; die Abriegelung der Autonomiegebiete; zusätzliche Kontrollen in den von Israel gehaltenen palästinensischen Gebieten; die Festnahme von bislang rund 200 mutmaßlichen islamischen Aktivisten und die Schließung zahlreicher karitativer und politischer Institutionen, die der islamischen Hamas zugeschrieben werden.

Die Drohung, in den Autonomiegebieten nach „Terroristen“ zu suchen, hat „Bibi“ nicht wahrgemacht. Abgesehen von den Verbalinjurien gegen Arafat, die Rabin und Peres immer vermieden, hat Netanjahu zusätzlich finanzielle Sanktionen verhängt. 145 Millionen Dollar Steuern, die der Autonomiebehörde zustehen, hält er gegenwärtig zurück. Eine schlichte Erpressung, die selbst in den Augen der US-Regierung nicht mehr als Kampf gegen den Terrorismus zu verkaufen ist.

Auch die Störung palästinensischer Rundfunksender, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit palästinensischer Parlamentarier, das Einreiseverbot für palästinensische Arbeiter nach Israel, die alle registriert sind und über spezielle Magnetkarten verfügen, kann schwerlich als „Kampf gegen den Terrorismus“ ausgegeben werden. Es sind schlicht Strafmaßnahmen. Netanjahu weiß, daß die Abriegelung den Palästinensern pro Tag einen wirtschaftlichen Verlust von 6,5 Millionen Dollar beschert.

Arafat, so die Palästinenser, solle geschwächt werden, um weitere territoriale Konzessionen zu machen. Gewiß spricht die Aufdeckung einer Bombenwerkstatt von Hamas letzten Monat in Beit Sahour und jetzt in Kalkilya – beide unter palästinensischer Kontrolle – nicht dafür, daß von dort aus keine Anschläge mehr geplant sind. Aber die Verhaftung von Hamas-Mitgliedern, die einen israelischen Soldaten im Dorf Surif bei Hebron ermordeten, war nur auf Hinweise der palästinensischen Sicherheitsdienste hin möglich. Die Sicherheitskooperation funktioniere, erklärte Netanjahu zwei Tage vor dem Anschlag öffentlich. Was Israels Premier als „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgibt, ist in den Augen der Palästinenser deshalb „ein Krieg gegen das palästinensische Volk und die Autonomiebehörde“.

Die Vermutung ist nicht leicht von der Hand zu weisen, daß Netanjahu den Anschlag in Jerusalem auch nutzt, um den Friedensprozeß und die Ergebnisse von Oslo zu revidieren. Indem er alle propagandistischen Kanonen auf Arafat richtete und den Friedensprozeß aussetzte, brachte er die US-Regierung in die Zwangslage, entweder als pietätlos gegenüber den Opfern zu erscheinen oder aber die schon geplante Mission ihres Unterhändlers Ross erst einmal absagen zu müssen. Damit wischte er die „neuen Ideen und Vorschläge für den Friedensprozeß“, die die US-Regierung angekündigt hatte, erst einmal vom Tisch.

Genau das macht ihn auch für die Clinton-Regierung suspekt. Der US-Präsident erneuerte deshalb trotz des Attentats seine Forderung an Netanjahu, alles zu unterlassen, was die Wiederaufnahme der Verhandlungen erschwere. Wenn die Sicherheitsfrage befriedigend gelöst werden kann, wird Netanjahu wieder unter politischen Druck geraten.

Und wenn US-Außenministerin Albright dann zu ihrem ersten Besuch in der Region eintrifft, erwarten die Palästinenser, all das auf den Tisch bringen zu können, was sie als israelische Versäumnisse im Friedensprozeß bezeichnen.

Dazu gehören der Bau von Hafen und Flughafen im Gaza-Streifen und vor allem die Verbindungsstraße zwischen dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Seit Jahren kann die große Mehrheit der Palästinenser den Gaza-Streifen nicht verlassen, nicht mal zum Verwandtenbesuch im Westjordanland. Dazu gehören ferner ein Ende der israelischen Landnahme und des Siedlungsbaus. Dazu gehört die Frage der Häuserzerstörungen und der Entzug des Aufenthaltsrechts in Jerusalem. Und dazu gehört nicht zuletzt der im September fällige nächste israelische Teilrückzug aus den besetzten Gebieten.