"Die Heuchelei ging ja immer weiter"

■ Ronald Lötzsch (65), Ex-Bautzenhäftling, Regimekritiker, SED-Funktionär und heute aktives Mitglied der PDS, hat den Mauerbau begrüßt: "Im Sinne des Systems, wie wir es wollten, war die Grenzschließung

Von November 1957 bis November 1960 war Ronald Lötzsch in Haft, die Hälfte davon saß er in Bautzen 2. Vor seiner Verhaftung war der Sprachwissenschaftler Assistent an der Uni Leipzig, danach Bauhilfsarbeiter und Übersetzer, ab 1961 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR.

taz: Warum haben Sie in Bautzen gesessen?

Ronald Lötzsch: Ich und einige Freunde waren der Meinung, daß die DDR nur ohne Ulbricht und seine Speichellecker eine Perspektive hat. Wir haben Walter Ulbricht parteiöffentlich zum Rücktritt aufgefordert, und da war es kein Wunder, daß 1957, als Ulbricht zum großen Gegenschlag ausholte, wir mit dabei waren.

Trotzdem haben Sie die DDR bejaht?

Wir waren für eine DDR ohne Ulbricht: Abschaffung dieser Verlogenheit. Man hat sich selbst und der Bevölkerung immer vorgemacht, alle zögen am selben Strang. Wir waren für die allmähliche Reformierung. Gesamtdeutsche Illusionen spielten bei uns überhaupt keine Rolle.

Und Sie haben auch den Mauerbau begrüßt?

Ja. Im Prinzip waren wir der Meinung, eine Schließung der Grenze ist im Sinne des Systems – so wie wir uns es vorstellten – erforderlich. Ohne Beeinflussung von außen sollte die DDR demokratisiert werden. Und die Erleichterung, die ich persönlich verspürt habe, fand ich bei sehr vielen Bekannten und Gesinnungsgenossen wieder. Ich weiß nicht, wie das Verhältnis war: Wahrscheinlich war eine Mehrheit der Bevölkerung verängstigt über den Mauerbau. Diejenigen, die erleichtert waren, waren die Minderheit, aber keine kleine Minderheit.

Hatten Sie nicht Angst, daß die Mauer, das, was sie angriffen – die Verlogenheit des Ulbricht-Regimes –, nicht noch stützen würde?

Das war in der Situation sekundär. Außerdem hat Ulbrichts Entwicklung seit seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden unsere Position ihm gegenüber relativiert. Er trat für die sozialistische Menschengemeinschaft ein und legte sich mit Moskau an, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde.

Was waren die Gründe für die von Ihnen genannte Minderheit, die Mauer zu begrüßen?

Daß man meinte, wieder in Ruhe arbeiten zu können. Es gab doch keinerlei Stabilität, Planung war bei der Massenflucht nicht mehr möglich. Jeder, der irgendwo eine Verantwortung hatte, war nicht mehr in der Lage zu garantieren, daß das, was er vorhatte, überhaupt realisiert werden konnte.

Die Erleichterung fand sich also nur bei Funktionsträgern?

Nein. Irgendeine Verantwortung hatte jeder. Wer seine Arbeit ernst nahm, mußte doch wissen können, daß die Kollegen auch am nächsten Tag noch da waren. Deshalb betraf Ablehnung des Mauerbaus nur bestimmte Aspekte. Die, die in der DDR bleiben wollten, wollten auch normal arbeiten können. Und das war vor dem 13. August nicht mehr gegeben.

Haben sich denn die Hoffnungen erfüllt, die Sie mit dem Mauerbau verknüpft hatten?

Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Die Heuchelei ging ja immer weiter. Jeder kriegte doch mit, was lief: Zwischen der Propaganda und der Realität klaffte ein Abgrund, und der wurde immer größer.

Schließlich war die Politbürokratie so isoliert, daß sich 1989, als sie endlich zum Abtreten gezwungen wurde, keine Hand für sie rührte.

Haben Sie den Fall der Mauer begrüßt?

Nein. Das war dann das Ende. Der Übergang hätte kontinuierlicher erfolgen müssen. Unter den Bedingungen, wie sie in Deutschland bestanden, war dies nicht möglich. Das war das Ende der Demokratie, die nach dem Abgang der Politbürokratie in einer souveränen DDR möglich gewesen wäre, wenn der Westen mitgespielt hätte. Interview: Barbara Junge