Anschlußengagement am geschichtsträchtigen Ort Von Carola Rönneburg

Schlimme Unsitten haben sich in den letzten Jahren in der Gastronomie etabliert. Da ist zum Beispiel der vermehrt auftretende Hang zum mündlichen Vortrag: Herr oder Frau Wirtin informieren persönlich über aktuelle Sonderanfertigungen aus ihrer Küche. „Wirhabenaußerdemmeeresfrüchteundeinenrucolasalatmitkräutervinaigrette“ rappeln sie los und befeuern den wehrlosen Gast ohne einmal Luft zu holen mit einer beeindruckenden Anzahl von Tagesgerichten, die nicht in der Karte oder auf einer Tafel stehen. Ihre Gedächtniskunst reicht allerdings nie soweit, zu den „Rosagebratenenstreifenvonderentenbrustauffeldsalat“ auch den dazugehörigen Preis zu nennen.

Vorsichtige Restaurantbesucher greifen daher lieber zum gedruckten Speisenangebot. Das ist jedoch auch nicht mehr das, was es einmal war. Wer heutzutage eine Speisekarte aufschlägt, stößt zunächst auf eine gastronomische Präambel. In ihr sind die Aufzuchtbedingungen von Schwein und Karotte ebenso dargestellt wie die Selbstverpflichtung des Hauses, stets um das Wohlergehen seiner Gäste besorgt zu sein – vor allem aber dient die wenigstens dreiseitige Erklärung dazu, die obligatorische Schwindelei unterzubringen, alle Speisen würden „frisch zubereitet“, weshalb um „Verständnis für eventuelle Wartezeiten“ gebeten werde.

Ist das Lokal in einem Neubau untergebracht, folgt nun die Seite mit den Vorspeisen; in allen anderen Fällen ein Kapitel Geschichte: Wir erfahren, daß sich in der Küche einst eine Schmiede befand oder daß früher vor den traditionsreichen Fischerstuben noch Netze geflickt wurden.

Das Hamburger „Café Leinpfad“, hübsch am Wasser an einer Brücke und zwischen zwei Komödientheatern gelegen, an „einem geschichtsträchtigen Ort“, hatte es an dieser Stelle vermutlich schwer. So winden sich die Betreiber nicht wenig, von der einstigen Bestimmung ihres Betriebes zu berichten. „Der Leinpfad diente dazu, Alsterkähne mit Muskelkraft von Mensch und Tier flußaufwärts zu ziehen (,leinen‘)“, erklären sie die Namensgebung ihrer Adresse und rücken noch ein Stück näher an ihren Standort: „Bereits 1859 entstand 50 Meter unterhalb der Brücke eine Dampfboot-Anlegestelle.“ Nach weiteren Worten über Schraubendampferfahrten und Brücken geben sie dann aber doch die ursprüngliche Funktion des „Café Leinpfad“ preis: Der geschichtsträchtige Ort war einst eine Bedürfnisanstalt.

Das macht doch nichts, möchte man da rufen, ich will trotzdem etwas bestellen! Dann aber fällt der Blick auf die letzte Seite der Speisekarte und damit auf das derzeit vermutlich einzige Nachwort im Gaststättengewerbe. „Liebe Gäste“, heißt es da. „Manchmal kommt es vor, daß junge Schauspieler, die einige Wochen an einem Stück der umliegenden Theater mitgewirkt haben, kein direktes Anschlußengagement finden können. In solchen Fällen bieten wir selbstverständlich Arbeit als Ausgabe oder Servicekraft an, die gern angenommen wird. Das wird auch in Zukunft so bleiben.“

Das ist sicherlich eleganter formuliert als „Entschuldigung, unser Personal spielt nur Kellner“ – ich aber wünsche mir, daß Speisekarten wieder Speisekarten werden. Von A wie Aperitif bis Z wie Zabaione.