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■ Die belgische Informationsgesellschaft – an und für sichAcht Kilo, in kleinen Briefen

Die sächsische Landesregierung legt offensichtlich großen Wert darauf, daß auch der taz-Korrespondent in Brüssel über die mißliche Lage der Justizvollzugsanstalt in der Dresdner Schießgasse Bescheid weiß. Die sei mit zweihundert Haftplätzen entschieden zu klein, werde ich belehrt, was sich nachteilig auf die Strafrechtspflege auswirke. Warum sie das ausgerechnet mir vorhält, ist mir auch nicht ganz klar. Immerhin weiß ich seit gestern, daß sich die Dresdner bereits seit vielen Monaten anstrengen, mich auch sonst über das dortige Regierungswesen auf dem laufenden zu halten.

Das ist mir bisher nur nicht aufgefallen, weil die belgische Post meinen Nachsendeantrag souverän ignoriert und alle Briefe hartnäckig bei meiner verflossenen Wohnung einschmeißt. Den Postboten irritiert dabei überhaupt nicht, daß da seit einem Jahr ein anderer Name an der Tür steht. Belgische Postboten führen nämlich gern ihr Langzeitgedächtnis vor. Alle paar Monate ruft mich deshalb mein ehemaliger Vermieter an, ich solle bitte den Papiermüll abholen. Diesmal waren es acht Kilo, in kleinen Briefen.

Wim Robberechts etwa, den ich leider nie kennengelernt habe, hat mir monatlich einmal mitgeteilt, daß er jederzeit Büroräume für TV-Journalisten verfügbar hat. Sogar Kaffee stünde dort bereit. Und die Flughafenleitung von Charleroi wies mich ausdrücklich darauf hin, daß Herbert Kelleher in Europa leider nicht sehr bekannt sei, obwohl er eine Fluggesellschaft leite, die jetzt auch Charleroi anfliegt. Es gibt so viele Dinge im Leben, die man nicht weiß und auch nie erfahren würde, wären da nicht die Pionierbrigaden der Informationsgesellschaft, die sich Tag für Tag die Mühe machen, alte Adressen herauszufinden und mit Neuigkeiten zu beschicken. Selbst die Hanns-Seidel-Stiftung der CSU und das Sozialwerk des Beamtenbundes scheinen mich nach meinem Umzug als protestlosen Informationsnehmer entdeckt und schätzen gelernt zu haben.

Manche Briefe kommen übrigens tatsächlich bei meiner neuen Wohnung an. Die belgische Supermarktkette Delhaize beispielsweise benutzt offensichtlich nur neuere Adreßbücher, um ihre Prosa loszuwerden: „Am Ende eines heißen Tages, an dem die Kraft des Lebens erneut das Naturwunder wieder in Kraft gebracht hat, versinken die Weinreben in Schlaf unter einem Abendhimmel in hellen Blau-Lila-Tönen, vermischt mit schimmernden Goldgelbnuancen und dem hellen Grau der kleinen zahlreichen Schäfchenwolken.“

Wo liest man noch so etwas Schönes in unserer hochtechnisierten Alltagswelt? Soviel Gefühl für Stimmungen, ganz ohne Sinn und Zweck, außer vielleicht, mich für einen südafrikanischen Wein zu begeistern, der zur Zeit besonders günstig im Angebot sei. Die haben sogar herausgefunden, daß ich Deutscher bin, und übersetzen mir das Ganze in meine Muttersprache, damit mir kein Jota ihrer Sonderangebotsprosa unverständlich bleibt.

Früher habe ich mich manchmal gefragt, wo sie alle meine Anschrift herhaben. Aber die Frage wird im Schnitt jede zehnte Woche einmal beantwortet. In Belgien ist die Informationsgesellschaft Meilen voraus. Neben unzähligen Adreßagenturen gibt es allein zwei Telefonbuchverlage, die mit immer schnelleren Neuauflagen wetteifern. Die Wälzer werden inzwischen mehrmals jährlich gratis ins Haus geliefert und unterscheiden sich eigentlich in nichts, weder von der Konkurrenz noch von den Vorgängermodellen. Außer vielleicht, daß einer der beiden Verlage, vermutlich aus Gründen der Originalität, seit einigen Monaten wieder meine alte Adresse verbreitet. Alois Berger

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