Tapes mit Marihuanaduft

■ Lee Perry gelang als erstem jamaikanischen Musiker der Sprung in die britischen Top ten. Jetzt ist der Erfinder des Dub wieder da, mit der CD "Arkology" und live

Als der Amerikaner Hank Targowski im April 1979 nach Jamaika reiste, um den Reggaeproduzenten und Erfinder des Dub, Lee Perry, in seinem Black Ark Studio zu besuchen, bot sich ihm ein Bild der Zerstörung. Das Studio war ausgebrannt, das ganze Gelände mit wirren Graffiti überzogen, ungezählte Masterbänder lagen im Matsch, und ein übergeschnappter Perry murmelte unverständliches Zeug. Zwei Monate später erklärte er seine Tochter zur Reinkarnation der Königin von Saba und betete Bananen an.

18 Jahre später ist Perry wieder da. Kein Technoplattenladen, der ohne seine Dubplatten auskommt, oft sind sie neben Kraftwerk die einzigen Aufnahmen von vor 1980, die in den Regalen stehen. So unterschiedliche Technoacts wie Mouse on Mars oder Basic Channel beziehen sich auf Perry. Und Grand Royal, die Zeitschrift der Beastie Boys und Zentralorgan der amerikanischen Alternativszene, widmete ihm ein Special.

Lee „Scratch“ Perry alias „The Upsetter“, „King“, „Super Ape“, „Dr. Dick“, „Dr. On The Go“, „Dr. Syntax“, „Pipecock Jackson“, „The Firmament Computer“, „Westminster Bank Perry“ (und drei Dutzend weiterer Namen) begann seine Karriere Ende der Fünfziger beim Boundsystem von Clement „Coxsone“ Dodd als Rudeboy für alles. Schnell stieg er auf und fing an, selbst für Dodds Studio One Platten zu produzieren. 1966 trennte er sich von Dodd und begann für das Amalgamated Label zu arbeiten. Doch zwei Jahre später hatte er auch davon genug: Er gründete sein eigenes Label und stellte eine eigene Band auf: The Upsetters. Mit den Upsetters begann Perry, inspiriert durch Spaghetti-Western und Agentenfilme, Instrumental-Rocksteady aufzunehmen, und schaffte es 1969 als erster jamaikanischer Künstler in die britischen Top ten.

Kurz darauf beginnt er die Wailers zu produzieren, und er verhilft der Band zu ihren ersten Hits. Schon bald geriet er jedoch mit deren Sänger Bob Marley über Geldfragen aneinander. Marley unterzeichnete bei Island und wurde ein Superstar, und Perry begann, nach Jahren in fremden Studios, eine eigene Operationsbasis aufzubauen, die 1974 aufnahmebereit war: das Black Ark Studio. Hier beginnt die Legende. Angetrieben durch Rum und Joints hing Perry 18 Stunden täglich in seiner schwarzen Arche und produzierte Klassiker auf Klassiker. Ob Roots-Reggae oder Dub, Perry definierte neue Grenzen für das, was musikalisch möglich war. Er integrierte Pistolenschüsse, Regenschauer, Babyschreien, Tiergeräusche und zerbrechendes Glas in seine Musik, pustete Marihuanarauch über die Mastertapes und säuberte die Tonköpfe der Bandmaschine mit seinem verschwitzten T-Shirt; kurz: Ohne einen Sampler zu haben, machte Perry Musik, die die Grenze zwischen Geräusch und Ton souverän mißachtete. „Arkology“, eine neuerschienene Triple- CD mit bekannten und bisher unveröffentlichten Stücken, dokumentiert Perrys Schaffen aus seiner Black-Ark-Phase. Max Romeos „War Ina Babylon“, „Party Time“ von den Heptones oder „Super Ape“ sind heute Meilensteine der jamaikanischen Musik.

Warum Perry sein Studio niederbrannte oder ob es Brandstiftung war, ist heute so wenig bekannt wie die Gründe für seine Todfeindschaft mit King Tubby, dem anderen Erfinder von Dub. Es kursieren fast ebenso viele Geschichten, wie seitdem Joints herumgegangen sind. Die Zerstörung des Black Ark macht Perry 18 Jahre später zu einer sagenumwobenen Gestalt, ähnlich wie Brian Wilson mit seinem unvollendeten „Smile“-Album. Genau wie der Kopf der Beach Boys steht Perry für ein Künstlermodell, das es zwar schon genauso lange gibt wie Aufnahmestudios, das aber erst in den Neunzigern voll zum Tragen gekommen ist: der Produzent. Von der Funktion des Aufnahmeleiters, der lediglich dafür sorgt, daß die Musiker bestmöglich auf Band gezogen werden, ist der Produzent im Zeitalter des Samplers und Drumcomputers zur Hauptperson aufgerückt. Wenn keine Instrumentalisten mehr nötig sind, heißt das Modell nicht mehr Band, sondern Produzent. So schreiben sich die Neunziger neue Traditionslinien und suchen sich neue Helden. Geschichte according to Techno heißt nicht mehr Velvet Underground, MC 5 und Iggy Pop. Die Linie wird eher vom Girlgroup- Produzenten und Teenagetycoon Phil Spector und dessen Wall of Sounds über Brian Wilson zu Lee Perry gezogen.

Und Perry selbst? Der Altmeister brauchte zehn Jahre, um über die Zerströung seiner Arche hinwegzukommen. Seit einigen Jahren nimmt er wieder Platten auf, wohnt am Genfer See und zehrt von seinem Ruf als großer Held des afro-amerikanischen Synkretismus. Spaghetti-Western meets die Bibel meets Rasta-Folklore meets Superheldencomics meets geniale Beherrschung billiger Technik. Alles durchlüftet von Tonnen Marihuana. Tobias Rapp

Lee „Scratch“ Perry: „Arkology“ (Island/Mercury).

Tourdaten im August: 15. Bielefeld; 16. Berlin; 17. Hamburg; 18. Münster; 19. Solingen; 20. Übach Palenberg; 21. Trier; 22. München; 23. Ulm