Jenseits des Regenwaldes

Im Norden der mexikanischen Aufstandsprovinz Chiapas verteidigen die traditionell Mächtigen mit allen Mitteln ihre Herrschaft  ■ Aus Tuxtla Gutierrez Anne Huffschmid

Samuel Sanchez sieht nicht so aus, wie man sich den Gründer einer paramilitärischen Bande vorstellt. Wohlerzogen und wortgewandt gibt sich der junge Mann mit dem adrett gescheitelten Haar und den indianischen Zügen. „Ja, natürlich bin auch ich ein Ch'ol“, sagt er lächelnd und bittet in den Versammlungsraum. Dort sitzt die gesamte Führungsriege der Gruppe, die sich vor zwei Jahren unter dem klingenden Namen „Paz y Justicia“ (Frieden und Gerechtigkeit) als anti-zapatistische Bastion im Norden von Chiapas formierte, um einen großen Tisch herum.

Knapp zwanzig Bauern sind aus der „Zona Norte“ zur Sitzung in die Provinzhauptstadt Tuxtla Gutierrez angereist. Endlich wollen sie der ausländischen Presse, die immer so eine „verzerrte Sicht“ der Dinge habe, ihre Version erzählen: wie nach dem Aufstand der Zapatistas die katholischen Katechisten, angefeuert von der befreiungstheologisch inspirierten Diozöse von San Cristóbal de las Casas, auch im Norden die Indios aufgehetzt haben – zur Besetzung von Rathäusern und Ländereien, Mord und Totschlag.

Welche Greueltaten sie ihren Feinden dabei angetan hätten: Diese würden auf Ameisenhaufen gefesselt, aufgeschlitzt, kastriert und vergewaltigt. Und wie man schließlich angefangen habe, sich gegen all diese Untaten zu organisieren. Ja, schon mit Hilfe der Staatspartei PRI, das sei bei den Ch'oles – eine der fünf größeren ethnischen Gruppen von Chiapas – „eine ebenso tief verwurzelte Tradition wie der katholische Glaube“, erklärt Sanchez, der selbst als PRI-Abgeordneter im Landtag sitzt. Und auch mit Unterstützung der Armee. Gegen die zapatistischen „compañeros“ habe man eigentlich gar nichts, nur gegen die Diozöse und ihren Bischof Samuel Ruiz, der unter den Ch'oles den „Bruderkrieg“ anheize.

An einer Wand hängt das Plakat einer regierungsnahen Bauernorganisation, Motiv: Ein Emiliano Zapata mit Sombrero und Patronengurt, darunter der Schriftzug „Zapata lebt – der Kampf geht weiter“. Samuel Sanchez grinst: „Zapata gehört schließlich allen Mexikanern – auch uns.“

Auch Rosey Perez Jiminez hat keine Probleme damit, sich zum Zapatismus zu bekennen. Allerdings sitzt der 22jährige Ch'ol seit über einem Jahr im „Hohlen Hügel“, Cerro Hueco, dem Landesgefängnis am Rande der Landeshauptstadt Tuxtla Gutierrez. Er sei Mitglied der „zapatistischen Basisgruppen“, sagt der selbstbewußte junge Mann gleich beim Händeschütteln.

Beschuldigt wird er, im Juli letzten Jahres bei einem Hinterhalt nahe dem Heimatdorf seiner Familie zwei Menschen erschossen und einem kleinen Mädchen die Arme abgehackt zu haben. Dabei habe er an eben diesem Tag Fußball gespielt, in einer 150 Kilometer entfernten Ortschaft, was sowohl Mitspieler wie auch Trainer bezeugen könnten. Schon auf der Fahrt nach Cerro Hueco sei er von Uniformierten geschlagen und zur Zapatistenguerilla EZLN verhört worden. Auf Weisung des Polizeichefs seien Zeugen „vorbereitet“ worden, „Paz y Justicia“ habe das halbe Dorf mit Geld und mit Drohungen dazu gebracht, gegen ihn auszusagen.

Der Aufstand hat die Spaltung im Dorf vertieft

Warum gerade er? Rosey kann es sich erklären. Vor vielen Jahren schon hatte sich sein Vater, in seiner Funktion als Gemeindevorsteher, mit ein paar Cantina-Betreibern im Dorf angelegt und auf Drängen der Frauen die beiden Dorfkneipen schließen lassen. Seitdem hätten die Kaziken, die traditionell Mächtigen, der Familie das Leben schwergemacht.

Mit dem Aufstand der EZLN habe sich die Spaltung im Dorf noch verschärft. Während viele nun anfingen, sich „gegen die Ausbeutung“ zu organisieren, bemühten sich die Kaziken, die später auch „Paz y Justicia“ mitbegründen sollten, andere Familien auf ihre Seite zu ziehen. Vor diesem Hintergrund sieht Rosey sich „ganz klar als politischen Gefangenen“.

In San Cristóbal de las Casas ist dreieinhalb Jahre nach dem spektakulären Einmarsch der Zapatistas endgültig der Alltag eingekehrt. Die Militärkonvois und die im grünen Gras campierenden Soldaten scheinen schon zur Landschaft zu gehören und auch die indianischen Straßenhändlerinnen gehen mit der Zeit: Neben den maskierten Stoffpüppchen haben viele jetzt auch ein paar wollene Dinosaurier im Angebot.

Als „extrem polarisiert“ beschreibt eine Studie des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas hingegen die unübersichtliche Lage in der Ch'ol- Region: auf der einen Seite die lokalen Kaziken um „Paz y Justicia“, die nach Ansicht des Zentrums „alle Kriterien für eine paramilitärische Gruppe erfüllen“ und mit denen Militär und Polizei mehr oder weniger offen kollaborieren. Auf der anderen Seite dann „alle anderen“, also die zapatistische Basis, die unabhängigen Bauernbewegungen, die katholischen Basisgemeinden und die Mitglieder der linksoppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Immer wieder berichten lokale Zeitungen von Überfällen, Mordanschlägen und blockierten Zufahrtswegen, in vielen Dörfern findet schon seit Monaten kein Schulunterricht mehr statt.

Seit Mitte Februar eine internationale Beobachterkarawane von „Unbekannten“ beschossen wurde – Teilnehmer identifizierten die Angreifer „eindeutig“ als Paramilitärs, festgenommen wurde dennoch keiner – trauen sich weder Reporter noch Nichtregierungsorganisationen länger in die abgelegenen Gemeinden des Nordens. Ein Bericht der PRD listet 41 politische Morde in der Region auf, unter den Opfern zehn Kinder. Erst vor wenigen Tagen meldete die Lokalpresse erneut vier Tote, diesmal hatte es Mitglieder von „Pay y Justicia“ getroffen. „Kein Zweifel, Tote gibt es auf beiden Seiten“, meint ein ortsansässiger Kollege, „die Angreifer aber kommen fast immer von ,Paz y Justicia‘.“ Schätzungen zufolge liegen derzeit mehr als 50 Anzeigen gegen die Gruppe bei der chiapanekischen Justizbehörde – bislang ohne Bearbeitung.

Auf rund 15.000 wird die Zahl der Vertriebenen geschätzt, die seit letztem Jahr vor dem paramilitärischen Terror geflohen sind. Viele der Familien flüchteten in die Berge oder in umliegenden Dörfer, bedrohlich belagert durch „Paz y Justicia“. Mitte April war es einer Gruppe von Delegierten gelungen, den Ring zu durchbrechen. Seither sitzen sie im Stadtzentrum von Tuxtla Gutierrez auf den Stufen zum Regierungspalast. Der Eingang zu dem unansehnlichen Betonklotz ist von einem riesigen Transparent verhängt, rechts und links hängen handgemalte Porträts von Zapata und Subcomandante Marcos. Zwischen Plastiktüten und Pappkartons spielen Kinder in der drückenden Schwüle, Frauen lesen Zeitung, ein paar Männer dösen im Schatten vor sich hin.

Drei Monate harren sie hier schon aus, Langeweile und Erschöpfung stehen allen ins Gesicht geschrieben. „Wir können nicht mehr“, sagt der Bauer Mateo Lopez und zuckt mit den Schultern. „Eine Lösung gibt es hier sowieso nicht für uns.“ Neben einer Entschädigung für die zerstörten Habseligkeiten fordern sie vor allem die Freilassung der „politischen Gefangenen“. Auch die Familie von Rosey Perez ist dabei, ohne große Hoffnung. „Die Regierung hält uns doch nur hin“, meint ein Cousin verbittert und knöpft sich das schmutzige Hemd zu, „besonders dieser Oberlügner Jarquin.“ Gemeint ist Uriel Jarquin, Staatssekretär des Landesinnenministeriums. Der meint nun, das Ganze sei ein „rein juristisches Problem“, überhaupt werde die Lage „viel zu sehr politisiert“. Warum denn dann keiner von der anderen Seite im Gefängnis sei? Nun ja, die hätten offenbar die besseren Anwälte.

Lieber einen Unschuldigen zuviel verurteilen

Vielleicht sei der eine oder andere Fall in Cerro Hueco tatsächlich schlecht fundiert, dennoch, so Jarquin gegenüber der taz, sei es immer noch „vorzuziehen, einen Unschuldigen zu verurteilen, als einen Schuldigen laufenzulassen“.

Drei Tage später sind die Transparente von den Stufen verschwunden. In der Nacht haben sich die Besetzer unverrichteter Dinge auf ihren beschwerlichen Heimweg gemacht. Zurückgelassen haben sie nur eine minutiöse Auflistung der erlittenen Verwüstungen – 28 Tote, über 5.000 Vertriebene aus 24 Dörfern, 1.150 zerstörte und verbrannte Häuser, fast 3.500 gestohlene Kühe und Schweine – und eine Forderung: daß die Gefangenenfrage künftig direkt zwischen EZLN und Regierung verhandelt werden solle.

Doch die Wiederaufnahme der Gespräche ist nicht in Sicht, und Versöhnung scheint in Chiapas heute ferner denn je. Auch für einen wie Don Carlos, den deutschstämmigen Kaffeepflanzer, dessen Rancho drei Kilometer südlich der Ch'ol-Region liegt. Auch hier brodele es, klagt Ehefrau Amparo: „Wir leben in ständiger Angst vor Landbesetzungen.“ Vor knapp hundert Jahren hatte der Großvater aus Bremen das Land erstanden. Seither ist der Familie ihr Boden via Landreform stückchenweise abhanden gekommen.

Heute sind es „nur noch“ 150 Hektar, auf denen Carlos Setzer seinen Kaffee anbaut, zur Erntezeit sind knapp zweihundert Arbeiter bei ihm beschäftigt. Er weiß auch genau, wer hinter der Misere steckt: „dieser verfluchte Bischof“, der mit seinem „Märchen, daß die Indios hier des Hungers sterben“, Geld aus aller Welt bekomme, damit Waffen für die Indios kaufe, die damit dann wiederum Leute überfallen und Land besetzen.

Beim Abschiedskaffee auf der Terrasse beugt sich Carlos Setzer herüber. „Ich sage ja immer“, raunt er, „wenn der Hund tot ist, hat auch die Tollwut ein Ende.“ Das sei ja nun sicher eher als Metapher gemeint? Er lächelt nachsichtig. „Meine Liebe“, sagt er und nippt an seiner Tasse, „das meine ich vollkommen ernst“. Und Don Carlos lehnt sich im Schaukelstuhl zurück und läßt den Blick schweifen über sein kleines grünes Reich, das vor ihm ausgebreitet in den gewellten Hügeln liegt.