Schräger Urlaub in Marcona

Ein Fremdenverkehrsverein will Touristen in Deutschlands größten Neubaubezirk Marzahn locken. Urlaub in der Platte als Alternative zum Mallorcatrip  ■ Von Gunnar Leue

Volle Strände, volle Deutsche – vor allem in diesem Jahr pilgern die Teutonen wie nie zuvor nach Mallorca, um sich auf der Insel der Sonne oder dem Suff hinzugeben. Doch wer auf das Meeresrauschen beim Sonnenbaden verzichten kann und sein Bier nicht unbedingt im „Ballermann 6“ hinunterkübeln muß, der kann ja auch nach Marcona fahren. Das ist keine Nachbarinsel, sondern war anno 948 der Name des heutigen Marzahn. Urlaub in der Platte als schräge Alternative zum allbekannten Südentrip, das hätte was.

Der Anfang ist immerhin gemacht: Seit Mai 1996 gibt es einen Fremdenverkehrsverein „Marzahn auf Touren“, und seit kurzem ein erstes von ihm herausgegebenes Unterkunftsverzeichnis. In dem findet der Besucher alles, was ihn interessieren könnte. Die Frage ist nur: Gibt es den an Deutschlands größter Plattenbausiedlung touristisch interessierten Menschen tatsächlich? „Auf jeden Fall“, meint Jürgen Esser, der Ideengeber und Chef des Vereins. „Aus ganz Deutschland haben die Leute schon angerufen und wollen Adressen haben. Die Sache ist ein durchschlagender Erfolg.“

So durchschlagend wie gewöhnlich die öffentliche Meinung über Marzahn. Die Wohn-und-Schlaf- Stadt für rund 160.000 Einwohner am Ostrand Berlins hat ihren Ruf als triste Plattenwohnsiloanlage mit null Charme und viel kultureller Ödnis weg. Doch das will der 47jährige Esser, der als ABMler im Marzahner Heimatmuseum beschäftigt ist, nicht gelten lassen. Er verweist auf die zahlreichen Oasen in der angeblichen Betonwüse, über der im übrigen die sauberste Luft der Stadt liege. Man müsse sich „nur die Zeit nehmen, die Schönheiten zu entdecken“. Marzahn besitze eben nicht nur die größte Industrie- und Gewerbefläche aller Berliner Bezirke, sondern biete auch 447 Hektar Wald- und Erholungsflächen, zudem dörfliche Idylle wie in Biesdorf oder Alt- Marzahn.

Neben dem befindet sich auch eine intakte Blockwindmühle mit einem leibhaftigen Müller, die ein echter Besuchermagnet für Leute aus nah und fern ist. Jürgen Esser, der eigentlich aus Magdeburg stammt und seit vierzig Jahren in Marzahn lebt, empfiehlt Gästen außerdem, ruhig einmal durch die Straßen des Neubaugebiets zu bummeln. Wen's interessiert, der könne da unter anderem etliche Kunstwerke aus DDR-Zeiten entdecken. Auch sonst gebe es einiges für die Freizeitgestaltung: Schwimmhallen, Theater, Kegelbahnen, Pubs und Diskotheken.

Die Urlaubswerber vom Stadtrand sind nicht bescheiden und wollen Gäste aus aller Welt ansprechen. „Warum nicht?“ fragt der Vereinschef. „Das Hotel Vier Jahreszeiten in Grunewald liegt ja auch nicht in der City.“ Gegenüber der Innenstadt seien zudem die Hotelpreise „hier draußen“ viel moderater und man könne mit dem öffentlichen Nahverkehr ohne Baustellen- und Parkplatzstreß in dreißig Minuten in der City sein. Und noch schneller sogar im Umland.

Natürlich richte sich das Angebot des Fremdenverkehrsvereins auch an die naherholungsuchenden Berliner (weshalb auch Bildungs- und Erlebnisexkursionen ins Umland geplant sind) und an die Marzahner selbst, die zum Beispiel ihre Gäste nicht zu Hause unterbringen können. Wie jene Frau, die kürzlich für ihren Besuch aus Kanada eine Unterkunft in der Nähe suchte.

Die nicht zuletzt bei etlichen Marzahnern vorhandene Skepsis, ob man den Bezirk wirklich als Urlaubsziel attraktiv machen könne, gibt's beim Fremdenverkehrsverein zumindest nicht. Jürgen Esser kann sich vorstellen, mit dem Vereinsslogan „Lernen Sie etwas kennen, das es so nicht noch einmal gibt!“ sogar auf der Internationalen Tourismus-Börse für Marzahn zu werben. Doch noch fehlt das Geld dazu. Die fünfzehn Vereinsmitglieder, darunter der Marzahner Bürgermeister, bringen nur je 60 Mark Jahresbeitrag in die nicht öffentlich subventionierte Kasse. Sponsoren werden deshalb gesucht. Immerhin findet der Verein Nachahmer. Im Nachbarbezirk Hohenschönhausen, einem Neubaugebiet mit ähnlicher Struktur, wird demnächst ebenfalls ein Fremdenverkehrsverein gegründet. Er ist dann der fünfte; nach Köpenick, Prenzlauer Berg und Marzahn der vierte im Ostteil. Im Westen haben nur die Spandauer einen. Der restlichen Bezirke bauen offenbar auf die Anziehungskraft der „Weltstadt Berlin“.