Erotik für den Eigenbedarf

Was haben Schreiben und Striptease miteinander zu tun? Wie erotisch ist das Verhüllen? Mario Vargas Llosas Roman „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“ gibt Aufschluß über diese und andere Fragen  ■ Von Ulrike Baureithel

Das Schreiben eines Romans, erklärte kürzlich Mario Vargas Llosa in einer Essaysammlung zu seinem Werk, sei ein umgekehrter Striptease, und „alle Romanciers sind diskrete Exhibitionisten“. Im Unterschied zur Tänzerin nämlich, die letztlich nackt auf der Bühne stehe, sei der Romancier am Ende bekleidet. Das wiederholte Bekenntnis zur autobiographischen Erfahrung als Ausgangspunkt seines Schreibens wirkt im Falle des jüngsten Romans des mehrfach ausgezeichneten peruanischen Schriftstellers pikant, denn bei den „Geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“ handelt es sich erklärtermaßen um einen erotischen Roman, getrieben vom Dämon der Lüste und sublimiert durch den Geist der Verführung. Und somit alles andere als diskret.

Oder doch, wäre ganz im Gegenteil der vorgeführte erotisch-literarische Striptease – ein Widerspruch in sich, wie Vargas Llosa weiß, denn Erotik lebt von der gekonnten Verkleidung – ein besonders geschickt getarnter?

Unendliches Spiel der Bilder

Einer, der mit jeder Enthüllung neu verhüllt und verwirrt, die Grenzen durchlässig macht und sich bedient aus dem Fundus, den Kunst und Literatur zur Verfügung stellen? Ein unendliches Spiel der Bilder, angestrahlt und verdunkelt, eine unendliche, mimetische Annäherung an das nie erreichte Vorbild? Wenn Erotik die „intelligente sensible Humanisierung der körperlichen Liebe ist“, was kann sie dann noch versprechen in einem Zeitalter, in dem die pornographische Ausstellung der Körper das schöpferische Potential der Lust längst verdrängt hat?

Schon die äußerst strenge, aber in sich verwirrende Komposition des Romans nimmt das Motiv des Versprechens auf, indem sie die Leserschaft narrt und irreführt. Auf einer ersten äußeren Handlungsebene wird die heimliche Rückkehr des zehnjährigen Fonchito in das Haus seiner Stiefmutter Lukretia, der von Rigoberto getrennt lebenden Frau, erzählt. Fonchito ist besessen von Egon Schiele, jenem „dekadenten“, früh an Syphilis gestorbenen Maler der Wiener Moderne mit einer obsessiven Vorliebe für nackte Kindermodelle. Schiele dient Fonchito nicht nur als monströse Identifikationsfolie, sondern seine Bilder liefern den Anstoß, das verborgene, delikate Geheimnis zu lüften, das Don Rigoberto von seiner Frau Lukretia trennt.

Scharf abgehoben von diesem Erzählstrang feiert der Ich-Erzähler in neun thematischen Briefessays seinen künstlerischen Hedonismus, lobt die technische Zivilisation, ereifert sich über die sportliche Sublimation, verhöhnt den Patriotismus, verdammt die Pornographie und preist den Katholizismus als letzten Bewahrer all jener Tabus, durch die das erotische Raffinement erst kultiviert werden kann.

Don Rigoberto, der fiktive Verfasser dieser Pamphlete, führt nämlich ein Doppelleben: Tagsüber der ehrsame, bürgerliche Geschäftsführer einer Versicherungsgesellschaft, verwandelt er sich nächtens in einen von erotischen Obsessionen getriebenen Monomanen. Angeregt durch seine sorgfältig ausgewählten Gemälde und Bücher, liefert er sich seinen sexuellen Phantasmen aus, die von Lukretia, diesem Sinnbild der ehrsamen Römergattin, auf einer zweiten Ebene der Romanfiktion inszeniert werden.

Ausschweifende Nächte mit Katzen

Dort verbringt sie, voyeuristisch verfolgt von ihrem Gatten, ausschweifende Nächte mit jungen Katzen oder ihrer Dienerin Justila, gibt sich den Obszönitäten eines impotenten Sportlers und den fetischistischen Phantasien eines alternden Professors hin oder erlebt die „ideale Woche“ mit einem Jugendfreund. All das, was Don Rigoberto in der erzwungenen bürgerlichen Tagesexistenz versagt bleibt, holt ihn in seiner nächtlichen Abgeschiedenheit wieder ein. Ihm wird es zur Gewohnheit, „das Leben der Bilder mit den wahren Bildern zu verquicken“. Vorstellung und Wirklichkeit vermischen sich, Rigoberto läßt Lukretia nach den klassischen Vorbildern posieren, sie die klassischen Situationen nachvollziehen.

Die teilweise obszön realistischen Szenarien, die dem nächtlich enthemmten Männerhirn entspringen und sich problemlos als perverse Männerphantasien denunzieren ließen, werden indes sprachlich unterlaufen und konterkariert durch Bilder von außerordentlich lyrischer Dichte. Immer wieder rekurriert die Fiktion auf die Fiktion, verschmilzt das inszenierte erotische Ereignis mit der zitierten Vorlage, um sich – auf der vierten Ebene des Romans – in Form eines trivial-kitschigen Briefwechsels zu exkulpieren.

Wie schon in früheren Romanen Vargas Llosas lösen sich dabei die Grenzen zwischen Erzähltem, Erinnertem und Phantasiertem kunstvoll auf. Es ist bis zum Ende nicht auszumachen, wo jeweils die reale Romanhandlung endet und die Fiktion beginnt. Schon die Rahmenhandlung zwischen Fonchito und seiner Stiefmutter weist irreale Züge in dem Maße auf, wie sich Egon Schieles Bilder choreographisch einmischen. „War er noch Herr seiner Träume“, fragt sich im siebten Kapitel Rigoberto, „oder beherrschten ihn diese bereits, weil er so großen Mißbrauch mit ihnen getrieben hatte?“ Doch Rigoberto, heißt es kurz darauf, „war noch immer klarsichtig genug, daß er sich nicht in die Fiktion hineinschmuggeln, nicht in den Traum springen konnte“.

Das berühmte barocke Motiv Caldérons vom Leben als einem Traum umkehrend, erzählt der Cervantes-Preisträger von einem Traum, „in dem das ganze Leben Platz hat“. Dieser Traum, die allnächtliche Erlösungshoffnung, ermöglicht Rigoberto das Ausharren in der nicht ungeliebten saturierten Existenz. Und umgekehrt benötigen auch „Phantasien und Wünsche ein Mindestmaß an Sicherheit“. Darüber hinaus gewährleisten sie, daß das vergängliche Glück von Zeit zu Zeit wiederbelebt, erneuert werden kann.

Aus dieser Perspektive hat Vargas Llosas Exkursion in die erotische Phantasie ihren bedrohlichen Stachel verloren. Sie mischt das bürgerliche Dasein nicht auf wie noch in Schieles Zeiten, sie frönt keiner Anarchie, die über den egoistischen Bedarf hinausginge, sie erklärt sich einverstanden mit dem „Schleim des Wurms“, der „von Montag bis Freitag von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends“ seine Spuren hinterläßt. Denn eben dieser „Schleim“ ist die Grundlage der phantasierten Höhenflüge.

Ermüdende Erotomanie

Gleichzeitig ist diese kunstreich verschlungene, wenn über fast fünfhundert Seiten hinweg auch etwas ermüdende Erotomanie des Südamerikaners ein Plädoyer für die Literatur und ihre produktive Wirkung: „Nicht die Welt gemeiner, sich selbst fortbewegender Wesen“, unterweist Rigoberto seinen Architekten zu Beginn des Romans, „interessiert mich, verschafft mir Lust und Leid, sondern jene Myriade von Wesen, die ihre Leben der Phantasie, den Wünschen und dem künstlerischen Talent verdanken.“ Denn erst die Fiktion, so Vargas Llosa, die Flucht in das Imaginäre, verbessert das Leben.

Mario Vargas Llosa:„Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997, 467 Seiten, 48DM

Mario Vargas Llosa: „Die Wirklichkeit des Schriftstellers“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997, 190 Seiten, 18,80DM