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Die Theatermonstermaschine

■ In einer konzertierten Aktion zeigen 44 Freie Hamburger Theatergruppen „Frankenstein“

Verschwörungstheorien werden in der Regel als krankhafte Phantasterein abgetan. Doch der Dramatiker Wolfgang Deichsel schälte in den sechziger Jahren aus der Para-noia einen wahren Kern heraus. Unter dem Titel Frankenstein. Aus dem Leben der Angestellten stehen seine Thesen seitdem der Theaterwelt zur Verfügung.

Es geht in dem Stück um Menschen als Maschinen, und dafür hatte Michael Batz, Hamburger Theaterschaffender im weitesten Sinne und Veranstalter der Hafenkulturtage, den richtigen Ort parat: Auf der Freilichtbühne in der Speicherstadt wird heute die jüngste Adaptation des Monsterstoffes zu sehen sein.

Deichsel behauptet, daß wir alle ferngesteuert werden. Aus fremden Wünschen, Überzeugungen und Handlungsanweisungen zusammengeflickt, werden wir in Betrieb gesetzt. Wer Glück hat, wird nach Feierabend ausgestellt. Andere verfolgen implantierte Träume bis in den Schlaf. Wessen Programmierung versagt, wird verrückt genannt.

Schauspieler und Regisseur Joachim Kappl hat 30 der 77 Szenen ausgewählt und die freie Hamburger Theaterszene zusammengetrommelt. 44 Gruppen haben sich des Themas angenommen und die Szenen – einige in drei bis vier Varianten – in Eigenregie ausgearbeitet. Erst kurz vor der Aufführung montierte Dr. Kappl die Einzelteile zusammen. Von Kammerspiel bis Rap, vom Videodialog bis zur Rockballade ist alles vertreten, was eine richtige Theatermonstermaschine ausmacht. Schnarchpausen sind nicht vorgesehen: Die Sequenzen sind 30 Sekunden bis 8 Minuten lang, und Kappl erklärt, daß die Unterschiede durch eine betonte Kontrastdramaturgie noch vertieft werden sollen. Das Prinzip heißt Baukastentheater.

Folgerichtig ist bei Deichsel die Transplantation des Shelleyschen Gruselmärchens in die Gegenwart: Es gibt nicht das Top-Übel in persona. Die Steuerung bleibt anonym. Und Kappl und Gehilfen treiben den Gedanken der Fragmentierung noch weiter. Statt der ursprünglichen acht Darsteller werden über 80 Kreaturen die Bühne bevölkern.

Die bei dem Projekt entstandene multiple Ästhetik ergäbe ein vollständigeres Bild, sagen Kappl und Batz. Niemand hat mehr Recht, schon gar nicht der große Steuermann auf dem Regiestuhl. Bei aller Tiefgründigkeit überwiegt aber das Groteske – das Lachen und das Gruseln.

Heute abend also, wenn die Lagerhäuser in der Speicherstadt lange Schatten werfen, zeigt sich, ob die Theatermonstermaschine des leitenden Angestellten Joachim Kappl das Highlight der Hafenkulturtage wird.

Barbora Paluskova

Heute und morgen, 23 Uhr, Theater in der Speicherstadt, Auf dem Sande, Sandbrücke

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