„Mit heißer Nadel gestrickt“

■ Pflegeversicherung: Nur noch „Schwerstpflegefälle“ in Altenheimen? Von Christoph Ruf

Die 93jährige Erna K. lebt seit drei Jahren in einem Altenheim im Hamburger Westen. 1992 war sie zum wiederholten Male schwer gefallen und erst von einer Betreuerin der Sozialstation bei einem Routinebesuch hilflos am Boden liegend aufgefunden worden. Obwohl sie kein Schwerstpflegefall ist, beschloß sie, sich in einem Altenheim anzumelden. Die Differenz zwischen ihrer kärglichen Rente und den Heimkosten trägt die Sozialhilfe.

Erna K. hat Glück gehabt: Wäre ihr Entschluß nicht 1992 sondern vier Jahre später gefallen, kämen auf die alte Dame erhebliche Probleme zu. Denn: Mit Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung am 1. Januar 1996 entscheidet nunmehr der „Medizinische Dienst“ – ein Zusammenschluß der Krankenkassen – über die Finanzierung der Heimunterbringung einer Person.

Kommen die ärztlichen Gutachter zu dem Ergebnis, daß es sich nicht um einen „Schwerstpflegefall“ – im Fachjargon „Pflegestufe 3“ – handelt, übernimmt die Pflegeversicherung auch nicht die vollen Kosten, sondern nur die Summe, die ihr „bei häuslicher Pflege entsprechend der Stufe der Pflegebedürftigkeit zustünde“. Und das sind höchstens 1800 Mark – viel zu wenig für einen Heimplatz, der zwischen 4.000 und 5.000 Mark kostet. Wer soll aber dann die Differenz zahlen, wenn die Pflegebedürftigen arme Schlucker sind?

„Es ist noch völlig offen, ob in solchen Fällen die Sozialämter einspringen“, zeigt sich Wolfgang Janzen, Heimleiter von „St. Markus“ in Eimsbüttel skeptisch. „Momentan habe ich eher den Eindruck, daß sie sich querstellen.“

Sollten sich diese Befürchtungen bewahrheiten, hätten „wir künftig nur noch absolute Schwerstpflegefälle zu betreuen“, sagt Dorothea Neumann, stellvertretende Stationsleiterin im „Altenheim der P.F. Reemtsma-Stiftung“ in Rissen. Und das bedeutet zusätzliche physische und mentale Anstrengungen für das ohnehin schon überlastete und chronisch unterbezahlte Pflegepersonal. Alle anderen alten, kranken oder behinderten Menschen, die nicht selbst dazuzahlen können, müßten sich Zuhause pflegen lassen – ob sie wollen oder nicht. Eine weitere Schwäche des Pflegegesetzes: Die seelsorgerische Betreuung depressiver oder verwirrter Menschen – ein Hauptbestandteil des Heimalltages – fällt künftig unter die Rubrik „Komfort- und Serviceleistungen“. Dessen Kosten werden jedoch weder von der Pflege- noch von der Krankenkasse übernommen.

Nicht nur Wolfgang Janzen prognostiziert, daß sich dann möglicherweise „die Reichen ihre Betreuung erkaufen, während die weniger Betuchten leer ausgehen“. Marie-Luise Weinert vom Deutschen Roten Kreuz befürchtet, daß der „Medizinische Dienst“ sich bei der Beurteilung des einem Menschen zustehenden Pflegeaufwandes „zu stark von finanziellen Gesichtspunkten leiten“ läßt und deshalb „die Qualität der Pflege sinken“ könnte.

So liegt nun also ein Gesetz vor, das „mit heißer Nadel gestrickt wurde“, so Heimleiter Janzen, und momentan mehr Fragen als Antworten aufwirft. Ob die Verunsicherung des Pflegepersonals dazu beiträgt, „die wesentlichen Voraussetzungen zur Führung eines menschenwürdigen Lebens bei Pflegebedürftigkeit zu schaffen“ - so der Gesetzestext - darf bezweifelt werden.