Mirow ist ein recht hübsches Städtchen

Wozu gibt es das Wochenendticket? Um günstig zu Goa-Parties zu kommen – ein Erlebnisbericht  ■ von Detlef Kuhlbrodt

Seltsam ist der Sommer und ein bißchen déjà-vu-mäßig, wenn man um fünf Uhr morgens im Zug auf dem Weg zu einem Open air ist. „Fusion“ hatte am Vortag schon begonnen, wir fuhren erst jetzt, wegen des Wochenendtickets.

Das Wochenendticket sorgt dafür, daß jedes Wochenende Tausende in Regionalzügen durch Deutschland fahren, auf dem Weg zu irgendwelchen Shiva-Moon- Parties oder Goa-Trance-Technoevents an seltsamen Orten im Stadtrandgebiet von Berlin oder an der Ostsee, auf dem Hof einer schleswig-holsteinischen Kifferkommune oder eben, wie bei der „Fusion“, auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflughafen an der Müritz. Aus den obskursten Gegenden Deutschlands kommen die Leute. Bei Großveranstaltungen sind es fünf- bis zehntausend, bei halb geheimen Parties manchmal auch nur ein paar hundert.

Im Zug nach Mirow war es klasse. Die Sonne schien über Morgennebelfelder. Junge Leute mit bunten Haaren kifften ab und an im Gang. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das taten, imponierte. Ein junger Mann, Anfang zwanzig, hatte kleine Glöckchen an seinen Stiefeln und trug Heinrich-Heine-Gedichte vor. Mirow ist ein recht hübsches Städtchen. Besonders schön sind die leeren Kopfsteinpflasterstraßen am Morgen.

Das Gelände war riesig. Tagsüber sah es eher westernmäßig aus; nachts fühlte man sich in einer träumerischen orientalischen Stadt, deren Grenzen durch die bunten Lichter auf den Flugzeughangars markiert wurden und die im Laserlicht, das knapp am Kitsch vorbeischrammte, an Spielbergs „Close Encounter“ erinnerte. An den Straßen die üblichen Stände mit Essen, Trinken, Sonnenbrillen und Tüchern und Nomadenzelte, in denen man auf Teppichen saß und Chai trinken konnte. Als Insekten oder Vögel verkleidete Schauspieler auf albernen Stelzen stören nicht allzusehr.

Open airs riechen nach Räucherstäbchen, Haschisch und Trockeneisnebel. Am Rande steht immer der zum Hippiewohnmobil umgebaute Militärlaster eines Berliner Hanfaktivisten. Irgendwo laufen Leute in buddhistischen Mönchsgewändern herum und verteilen esoterische Flyer oder auch Interim-Flublätter. „Psychedelische Ambulanzen“ kümmern sich um die Verpeilten. Allzuviel gibt es meist nicht zu tun; Goa-Parties – oder wie immer man das auch nennen mag – sind zwar immer auch Drogenparties, doch zum einen frißt nur der partymäßig engagiertere Teil vor allem LSD und Pilze (kiffen tut eh' jeder – meist nach dem Aufstehen am Morgen), zum anderen ist das Publikum etwas älter als bei Technoveranstaltungen und weiß wohl besser mit Giften umzugehen. Die meisten sind Anfang bis Mitte zwanzig; viele sind allerdings auch über dreißig, waren schon bei diversen Subkulturgenerationen dabei und bringen oft ihre Kinder und Hunde mit.

Indische Gewänder sind wieder oder immer noch sehr angesagt; ein nackter Inder meditiert am Rande und auf den ersten Blick sieht das alles aus wie eine Wiederholung der 70er Jahre. Nur die Musik ging damals halt eher ins psychotisch klagend Defensive. Acid und Goa dagegen sind extrem energetisch und kommen mit großen auftrumpfenden Robert- Crumb-Schritten daher. Ein paar Stunden auf komischen Wolken, und man möchte zum LSD-Propagandisten werden. Am Rande werden oft Lachgasballons verkauft. Die langhaarigen Verkäufer haben witzige Sachen an und bewegen sich aus Reklamegründen immer lustig. Demnächst wird die Lachgasdiskussion in den Medien beginnen.

Meist geht man wegen der Atmosphäre zu derlei Veranstaltungen. Wer gerade auflegt, wissen nur wenige. Es gibt auch nur wenige Stars und die schreibt man eher in Anführungszeichen. Sven Dohse aus Hamburg ist einer von ihnen. Ein extrem sympathischer DJ um die dreißig, der sich von Goa entfernt hat und inzwischen im Acid-Bereich experimentiert. Alle lieben Sven Dohse. Meist legt er sechs Stunden hintereinander an Vormittagen auf; wenn die Masse, die sich auf die eher populär-psychedelisch daherkommenden Nächte konzentriert hat, noch schläft oder schon gegangen ist und vor allem der Inner Circle barfuß herumhüpft, ist Sven Dohse in seinem Element. „Free Tibet“ steht auf seinem Plattenkoffer. Darauf können sich alle einigen – ob sie nun Goa, Techno, Acid, Trance auflegen oder als elektronische Musiker wie „der dritte Raum“ auf der großen Bühne vor ihren Synthesizern stehen.

An Presseberichten sind die Veranstalter nicht interessiert. Man hätte auch schon mal Fernsehteams vom Platz gewiesen, erzählte ein Veranstalter auf einem Open air an der Ostsee. Denn wenn's zu groß wird, verflacht die Atmosphäre. Früher war B. mal militanter Autonomer; nun klang er ein bißchen so, als meinte er sich dafür entschuldigen zu müssen, daß er inzwischen nicht mehr mit Steinen rumschmeißt, sondern Goa-Parties organisiert, die durchaus noch linken Idealen verpflichtet sind.

Wenn es klappt wie so häufig in diesem Sommer, sind Open airs wunderbare musikalische Städte, utopische Landschaften, in denen für ein Wochenende die städtischen Entfremdungen überwunden werden; und alles „in einem Haufen“ sich im ohrenbetäubenden Lärm vermischt, wie Kafka sich das mal wünschte. Man lernt auch dies und das. Daß Nackte von weitem zum Beispiel eigentlich ganz prima aussehen können, wenn sie wie neulich auf der Insel Poel am Vormittag im flachen Wasser um das DJ-Pult herum tanzen und das Meer sah aus wie der Himmel, in dem eine orangene Boje herumstand, als hätte sie da jemand hingeklebt.

Flyer mit aktuellen Infos gibt es in Plattenläden, Technoclubs oder auf den Veranstaltungen.