Sachsen hält wenig vom Bahnfahren

■ Ein Drittel des Schienennetzes für den Nahverkehr steht vor der Stillegung. Beschlossen wird im Herbst. Kommunen erhalten angeblich eine Stillegungsprämie

Berlin (taz) – In Sachsen ist ein Drittel des Eisenbahn-Nahverkehrsnetzes von Stillegung bedroht. Bis Anfang Oktober soll die Landesverkehrsgesellschaft einen Bericht über den Zustand der Strecken, das Verkehrsaufkommen sowie die Wirtschaftlichkeit vorlegen, um der Landesregierung eine Entscheidungsgrundlage für Stillegungen zu geben.

Die in Chemnitz erscheinende Freie Presse berichtete in dieser Woche ausführlich über die Stilllegungspläne: Danach stehen insgesamt 412 Kilometer des 1.300 Kilometer umfassenden „Ergänzungsnetzes“ zur Disposition – zu entnehmen einem Zwischenbericht des Wirtschaftsministeriums zum „Eisenbahnkonzept 2002“.

Im Ministerium selbst reagiert man zurückhaltend. Der Zwischenbericht sei durch „eine Indiskretion“ an die Zeitung gelangt; verbindlich entschieden sei noch nicht über das künftige Netz, sagt die Sprecherin Martina Pirk. Bestätigen kann sie allerdings, daß ein Teil der Strecken stillgelegt wird: „Das ist unstrittig.“ Sachsen habe immer noch das dichteste Streckennetz Deutschlands, könne aber angesichts des Investitionsbedarfs und des fehlenden Fahrgastaufkommens nicht alle Verbindungen halten. Ein Schnitt soll nun vor dem Frühjahr 1998 gemacht werden, wenn das Land mit der Bahn AG einen neuen Vertrag aushandelt.

Tatsächlich ist es wenig attraktiv, in Sachsen mit Regionalzügen zu fahren: Allerorten zwingen marode Streckenabschnitte die Bahn zum Kriechtempo. Investiert wird aber kaum in die Nebenstrecken. Grund dafür könnte die besondere Konstruktion bei der Bahnregionalisierung in Sachsen sein. Zunächst hat dort zwar das Land die Zuständigkeit für den Bahn-Nahverkehr übernommen; 2002 geht sie aber an die kommunalen Zweckverbände über. Nach Informationen der Freien Presse will das Land den Zweckverbänden die vorzeitige Übernahme der Bahnstrecken und anschließende Stillegung finanziell schmackhaft machen: Die Hälfte der Regionalisierungsmittel – die der Bund zahlt – dürften die Kommunen behalten. Martina Pirk aus dem Wirtschaftsministerium will das weder bestätigen noch dementieren.

Empört hat der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Albert Schmidt auf die Stillegungspläne reagiert: Sie wären „eine verkehrspolitische und ökologische Katastrophe“. Schmidt liegen zudem interne Protokolle aus dem sächsischen Wirtschaftsministerium vor, wonach über die rund 400 Kilometer von Stillegung bedrohter Verbindungen hinaus noch weitere zehn Strecken von insgesamt 100 Kilometer Länge zur Disposition stünden. Der Abgeordnete fordert ein Stillegungsmoratorium bis zur Vorlage eines in sich schlüssigen Gesamtkonzepts. Daneben müßte endlich mit der Sanierung des maroden Netzes begonnen werden, um die Bahn für die Kunden wieder attraktiv zu machen. Gudrun Giese