■ Ökolumne
: Knochenbleich Thomas Worm

In der geweihten Gehirnkoralle, so glaubten die traditionellen Kanusegler Melanesiens noch bis vor wenigen Jahrzehnten, lebe der Geist des Seegottes. Hüter der menschlichen Geschicke. Doch zusammen mit den Traditionen ist der Seegott abgestorben. Und bald auch die Korallen.

Die Bilanz der ungezügelten Meeresausbeutung klingt verheerend. Mindestens 10 Prozent der Korallenbänke weltweit gelten „als unrettbar zerstört“, weitere 30 Prozent als schwer geschädigt. Binnen drei bis vier Jahrzehnten, so die jüngste Studie des World Wide Fund of Nature (WWF), werden zwei Drittel unwiederbringlich verloren sein.

Dabei tummelt sich in den roten, gelben und blaugrünen Unterwasserparadiesen ein Viertel aller marinen Arten: Fische, Muscheln, Krustentiere. Archipele wie Indonesien beherbergen über 700 verschiedene Korallen, ein einziges intaktes Riff auf den Philippinen 3.000 unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Nur der tropische Regenwald überbietet die Korallenbänke an biologischer Vielfalt. Im internationalen Jahr des Riffs, 1997, ein gern wiederholter Vergleich. Denn dem brennenden Regenwald, der den Augen eben nicht durchs Meer verborgen bleibt, wird unvergleichlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als den siechen Korallengärten.

Internationales Jahr des Riffs – das Themenjahr ist ein Hilferuf nach mehr Interesse. Während sich der irdische Blick über 100 Millionen Kilometer hinweg in die rostbraune Einöde des Mars verliebt, reicht er hienieden nicht mal 10 Meter tief unter Wasser, wo sich die meisten der inzwischen knochenbleichen Riffwüsten befinden. Ob im australischen Berrier Reef oder in der Karibik oder im Roten Meer.

Unsere globale Dow-Jones-Kultur, die in Zahlen denkt und am Dollar hängt, gebiert einen Januskopf aus Luxus und Elend. Im Zangenangriff setzt er den Riffen von zwei Seiten zu. Harpunierende Souvenirjäger aus Straubing und thailändische Dynamitfischer, ostasiatische Riffischgourmets und Afrikas bettelarme Korallentaucher. Hinzu kommt die Schmutzfracht aus Schiffen, von Industrie-, Haushalts- und Agrarabwässern sowie die weggeschwemmte Erde durch Bodenerosion, die an Flußmündungen die Korallen erstickt. Den Rest besorgt das CO2-süchtige Konsumverhalten, das im Treibhaus Erde auch den Ozean erwärmt. Die Korallenpolypen mit ihren wärmeempfindlichen Algen verfallen schon bei ein paar Grad Temperaturanstieg in Agonie, es kommt zur Bleichkrankheit. Wer als Schnorchler je den Anblick zerbröselnder Kalkskelette genossen hat, wo vorher Schwärme von Picasso- und Papageienfischen durch filigrane Farbgebilde huschten, wird das kaum vergessen.

Der Nutzen gesunder Riffe ist unbestritten: als Laichgebiet, als Nahrungsreservoir für große Fische, als Wellenbrecher und aquatische Speisekammer für die Küstenbevölkerung. Es wird geschätzt, daß allein Floridas Riffe 1,6 Milliarden US-Dollar Wert für die Tourismusindustrie haben. Hochgerechnet auf den Globus riesige Milliardensummen. Vom natürlichen Medikamentenvorrat ganz zu schweigen, der dort unten schlummert, aber noch weitgehend unbekannt ist. Die gewebeverträglichen Korallen können auch als Prothesen dienen. Also: ein versunkener Schatz.

Außer der Verbraucherparole „Hände weg vom Korallenschmuck“ liegen deshalb auch die politisch korrekten Forderungen auf der Hand: Ächtung des Handels mit Rifforganismen, sanfter Tourismus mit Beteiligung der heimischen Bevölkerung, Küstenzonenmanagement. Und das alles am besten unter dem Dach einer Meeresschutzkonvention.

Als das Wünschen noch geholfen hat... Wieder einmal ist es die unselige Melange aus politischer Ignoranz und hedonistischer Gleichgültigkeit, aus kurzsichtigem Profitdenken und mafioser Korruption, die einmaligen Biotopen den Garaus macht. Die ein Feuerwerk der Artenvielfalt in blaßgraue Gerippe verwandelt.

Dennoch, wenigstens der Einfallsreichtum der „Riff-Heiler“ kann Mut machen. Korallenforscher Hector Guzman vom Smithsonian Tropenforschungsinstitut in Panama pflanzte 63.000 gesunde Korallenfragmente in einem Riff an. Und siehe da, die allermeisten wuchsen weiter. Ein Stück möglicher Rekultivierung. Hoffentlich liefert nicht ausgerechnet sie den Vorwand, so weiterzumachen wie bisher.