Die latente Drohung des Bürgerkriegs

Mit der Fluktuation auf dem Wohnungsmarkt und der Bevölkerungswanderung verschärft sich auch die räumliche und soziale Segregation in der Stadt. Wissenschaftler sprechen bereits von einem „qualitativen“ Bevölkerungsaustausch  ■ Von Uwe Rada

Von der Öffentlichkeit beinahe unbemerkt, präsentierte das Statistische Landesamt im Herbst vergangenen Jahres demographischen Sprengstoff: die aktuellen Daten der Berliner „Völkerwanderung“. Besonders betroffen von den Wanderungsbewegungen war der Prenzlauer Berg. Von den 145.000 Einwohnern des Bezirks, so das Landesamt, seien im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1991 und dem 30. Juni 1996 64.955 Personen aus dem Bezirk weggezogen. Hinzugezogen seien fast genauso viele, nämlich 68.820.

Hitzige Diskussionen haben die Zahlen des Statistischen Landesamtes erst ausgelöst, als im April dieses Jahres der Politologe Matthias Bernt im Auftrag der PDS die Wanderungsbewegung interpretierte. Bernts Fazit: Ein Großteil der Mieter sei verdrängt worden, die behutsame Stadterneuerung habe versagt, der Prenzlauer Berg sei ein Paradebeispiel für die Gentrification, die Aufwertung eines Stadtviertels.

Das konnte natürlich der Sanierungsträger S.T.E.R.N. nicht auf sich sitzen lassen. Bernt betreibe unseriöse Zahlenspielereien und ignoriere etwa Umzüge derselben Mietparteien im Untersuchungszeitraum, warf der Prenzlauer Berger S.T.E.R.N.-Chef Theo Winters dem Autor der PDS-Studie vor. Während nach Untersuchungen des Stadtforschungsinstituts Topos etwa im Gleimviertel tatsächlich 30 Prozent der nach 1989 neu belegten Wohnungsmieter aus demselben Kiez kommen, liegt Winters mit seiner Behauptung, Verdrängung gebe es so gut wie nicht, allerdings daneben. Dies belegt nicht nur eine andere Topos-Untersuchung, die 1995 zum Ergebnis kam, daß bei privat modernisierten Häusern fast 30 Prozent der alten Bewohner aufgrund der gestiegenen Mieten ausgetauscht wurden. Auch der vergangene Woche vorgestellte Mietspiegel hat gezeigt, daß modernisierte Altbauten in Ostberlin trotz zahlreicher Schutzbestimmungen mittlerweile durchschnittlich 20 Prozent teurer sind als im Westteil.

Doch nicht nur hinter solchen Zahlen verbirgt sich der Hinweis auf Verdrängung und Segregation der Bevölkerung, sondern auch hinter der zunehmenden Mieterfluktuation. Daß der Berliner Wohnungsmarkt in Bewegung ist, ist nichts Neues. Die Anzahl der Umzüge pro Jahr und Bestand hat mit sieben Prozent 1995 den Höchststand seit der Wende erreicht. Damals betrug die Fluktuation drei Prozent. Während Politiker die steigende Umzugsfreudigkeit immer noch gerne als „Ende der Wohnungsnot“ interpretieren, schätzt Manuela Wolke vom Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin die Situation allerdings als äußerst kritisch ein. In ihrer Forschungsarbeit „Migration in Stadtregionen der Neuen Bundesländer – das Beispiel der Metropolenregion Berlin/Brandenburg“ deutet sie bereits hohe positive oder negative Wanderungssaldi als „deutlichen Indikator für signifikante Migrationsprozesse“. Der Anstieg der Migrationsvolumina allerdings, also der realen Fluktuation, weise darüber hinaus „auch bei einem fast ausgeglichenen Saldo auf ausgeprägte bevölkerungsstrukturelle Austauschprozesse hin“.

Da in Berlin das Migrationsvolumen von 211.642 im Jahre 1992 auf 236.666 im Jahre 1995 gestiegen ist, seien in Berlin demnach nicht nur „quantitative“, sondern auch „qualitative“ Bevölkerungsveränderungen zu beobachten. „Derartige demographische, soziale und ethnische Umstrukturierungen“, schreibt Wolke, würden jedoch weniger auf der regionalen Makroebene als vielmehr auf der kleinteiligen Mikroebene spürbar werden.

Für Berlin betrifft dies vor allem die Bezirke, deren soziale und räumliche Ausdifferenzierung und Stellung im Stadtgebiet bereits seit längerem einer Veränderungsdynamik unterworfen sind. Wie sehr die Karten in Berlin neu gemischt wurden, wie sehr sich die Bevölkerungsstruktur in den Bezirken teilweise bereits geändert hat, ist nicht zuletzt dem Sozialstrukturatlas der Gesundheitsverwaltung zu entnehmen. Darin wird im wesentlichen die räumliche Verteilung „sozialer Ungleichheiten und sozialer Unterschiede“ analysiert. Bereits 1995, als der Sozialstrukturatlas erstmals für alle 23 Berliner Bezirke erschien, wies das Datenwerk auf deutliche Unterschiede innerhalb der Bezirke hin. Insbesondere beim Sozialindex, so urteilte die Gesundheitsverwaltung damals, würden die Innenstadtbezirke von einer deutlichen sozialen Benachteiligung betroffen sein. Dies zeigt sich auch in der bezirklichen „Rangliste“, in der Kreuzberg mit Abstand abgeschlagen auf dem letzten Platz landet. Vor Kreuzberg lagen mit Tiergarten und Prenzlauer Berg 1995 ebenfalls zwei Innenstadtbezirke. Fortgesetzt wird die „Rangskala der sozialen Belastung“, wie es im Soziologendeutsch der Verwaltung heißt, „von den Bezirken Friedrichshain, Wedding und Schöneberg“. Mit Ausnahme des Bezirks Mitte seien damit ausschließlich sechs Innenstadtbezirke durch eine große soziale Belastung charakterisiert. In diesen Bezirken leben etwa 24 Prozent der Berliner Bevölkerung.

In der 1997 erfolgten Aktualisierung der Daten hat sich an der Konzentration sozialer Probleme auf die Innenstadtbezirke wenig geändert – wohl aber in der Rangliste der Innenstadtbezirke untereinander. Zwar ist Kreuzberg nach wie vor unangefochtenes soziales Schlußlicht in Berlin. Prenzlauer Berg jedoch, der 1995 noch auf dem vorletzten Platz landete, hat in den letzten drei Jahren drei Plätze gutgemacht und findet sich nun auf Platz 19 wieder. Abgerutscht ist dagegen der Wedding, von Platz 19 auf 21. Ganz unten ist nach wie vor auch Neukölln.

Während die Autoren des Sozialstrukturatlas keine Auskunft über die Gründe dieser innerstädtischen Verschiebung geben, gibt die im Sommer 1997 erschienene Bevölkerungsprognose aus dem Hause von Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) durchaus Aufschlüsse über die sozialräumliche Binnendifferenzierung der Innenstadtbezirke. Verantwortlich für die Änderungen der Sozialindizes seien nämlich unter anderem die Bevölkerungsströme von und nach den einzelnen Bezirken. Und hier zeigt sich auch in den Gründerzeitquartieren eine deutlich differenzierte Entwicklung. Während für die Ostberliner Innenstadtbezirke Prenzlauer Berg und Friedrichshain mit einem deutlichen Bevölkerungsrückgang gerechnet wird, wird die Anzahl der Bewohner in Kreuzberg, Wedding, Tiergarten, Neukölln und sogar Schöneberg weiter ansteigen. Dies ist, so die Prognose, vor allem auf den Anstieg der ausländischen Bevölkerung von heute 13 auf 17 Prozent im Jahre 2010 zurückzuführen. „Der Anstieg des Ausländeranteils betrifft vor allem die Bezirke, in denen dieser schon vergleichsweise hoch ist“, heißt es in der Prognose. So steige etwa in Kreuzberg der Ausländeranteil von 31,7 Prozent im Jahr 1995 auf 40,9 Prozent im Jahr 2010. Gleiches gilt für den Wedding mit einem Anstieg von 26,5 auf 37 Prozent.

Auch real wird die Bevölkerung in den Westberliner Innenstadtbezirken steigen, in Kreuzberg um neun Prozent, in Wedding um vier, in Schöneberg um fünf und in Tiergarten um zwei Prozent.

Strieders Prognose scheint damit in allen Punkten die Befürchtung der Regionalforscherin Manuela Wolke zu erfüllen. Bedingt durch den Anstieg der Binnenwanderung, aber auch der Wanderungen von und nach Berlin sind bereits deutliche Zeichen einer räumlichen und sozialen Segregation der Berliner Bevölkerung zu beobachten.

Besonders deutlich wird der soziale Abwertungsprozeß nicht nur in Kreuzberg, wo die Jugendstadträtin Hannelore Mai bereits mit einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf 60 Prozent im Jahr 2000 rechnet, sondern auch in Neukölln. Die Neuköllner Altstadt, wie das gründerzeitliche Neukölln im Amtsdeutsch gegenüber den Neubaugebieten der „Südstadt“ genannt wird, ist kein Problembezirk mehr, sondern steht kurz vor der Verslumung. Die Arbeitslosenquote ist im gesamten Bezirk auf über 20 Prozent gestiegen, im Norden ist sie weitaus höher. Jugendstadtrat Heinz Buschkowsky: „Die wirtschaftliche Verelendung führt in vielen Fällen auch zur sozialen Verelendung.“ Inzwischen, so der SPD-Politiker, gebe es sogar Kinder, die hungernd durch die Straßen laufen.

Grund für den Stadtrat, Alarm zu schlagen, war die Vorlage des ersten Neuköllner Kinder- und Jugendhilfeberichts im Juli 1997. Jeder fünfte der 312.000 Einwohner Neuköllns ist unter 21 Jahren alt. Jeder siebte von ihnen wird dabei regelmäßig vom Sozialpädagogischen Dienst des Neuköllner Bezirksamts betreut. 1.400 Neuköllner Kinder leben in Heimen oder Pflegestellen. Jeder achte Neuköllner Jugendliche ist bereits straffällig geworden. Im Jahre 1996 ging das Neuköllner Jugendamt 200 Hinweisen auf Gewalt gegen Kinder nach.

Nüchterne Zahlen, die auf einen um so ernüchternderen Hintergrund hinweisen: Der Norden von Neukölln ist zum Berliner Sozialfall Nummer eins geworden. Es gibt Straßen in Neukölln wie die Flughafenstraße, wo 40 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum wohnen, wo zwei Drittel aller zur Verfügung stehenden Wohnräume von mehr als zwei Personen bewohnt werden. Besonders eklatant ist die Wohnraumversorgung der ausländischen Bevölkerung, die im Norden von Neukölln mit einem Anteil von 35 Prozent noch höher ist als in Kreuzberg. Im ehemaligen Sanierungserwartungsgebiet Flughafenstraße liegt der Anteil der ausländischen Haushalte sogar bei 53 Prozent, der personenbezogene Anteil sogar bei 78 Prozent. „Um im eigenen Viertel bleiben zu können“, sagt Ursel Dyckhof, die bis 1996 20 Jahre lang in Neukölln als Mieterberaterin gearbeitet hat, „nehmen viele Immigranten überteuerte Mieten in Kauf.“

Die Folgen einer solchen Armutsdynamik werden im Jugendhilfebericht genannt: „Nach den Erfahrungen der im Bereich der Jugendhilfe Tätigen ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einer Vielzahl an negativen Erfahrungen, stark beeinträchtigten Lebensbedingungen und häufig erlebten Beziehungsabbrüchen sehr hoch.“

In ihrer Tätigkeit als Mieterberaterin hat Ursel Dyckhoff auch die Neuköllner „Gebietsbindung“ untersucht, die durchschnittliche Wohndauer, aber auch die sozialen und räumlichen Bindungen an den Bezirk. Ihre Beobachtung: „Wer kann, zieht weg.“ Eine vergleichsweise lange Wohndauer sei nur bei den sozial besonders Schwachen und der ausländischen Bevölkerung festzustellen. Aber selbst viele türkische Neuköllner, die sich mit dem Gedanken tragen, sich selbständig zu machen, wollen ihre Geschäfte lieber in Kreuzberg eröffnen. Neukölln, sagt Ursel Dyckhoff, verarme auch im gewerblichen Bereich. Immer weniger kleine Läden, immer mehr Ketten, immer weniger Läden in den Seitenstraßen. „Die soziale und gewerbliche Infrastruktur stirbt aus“, sagt Dyckhoff. Neukölln auf dem Weg nach unten, ein Teufelskreis.

Die Entwicklung Neuköllns beschreibt damit die andere Seite der Entwicklung Prenzlauer Bergs – beschreibt keine Aufwertung sondern Verfall. Mittlerweile warnen Experten wie der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann bereits eindringlich vor einer „neuen sozialräumlichen Struktur“ der Stadt. Die räumliche Trennung zwischen den sozialen Gruppen, sie soziale Segregation, Aufwertung von Altbauquartieren und die Herausbildung von Räumen der Benachteiligung und Marginalisierung führen, so Häußermann, zu einer latenten Drohung des Bürgerkriegs. „Wenn einem wachsenden Teil der Stadtbevölkerung die Hoffnung geraubt wird, ein menschenwürdiges Leben führen zu können, dann wird die urbane Kultur der Vielfalt durch unversöhnliche Widersprüche unterminiert.“