„Ich war und bin Sozialist, Herr Richter“

Schlußworte im Politbüroprozeß: Egon Krenz schlüpfte noch einmal in die Rolle des Staatschefs der DDR, Günther Kleiber hielt sich kurz, und Günter Schabowski rechnete erneut mit der SED ab  ■ Aus Berlin Severin Weiland

Günther Kleiber ist ein unscheinbarer Mann. Große Worte sind seine Sache nie gewesen, nicht als Wirtschaftsexperte im SED- Politbüro und schon gar nicht als Angeklagter im Politbüroprozeß. Und so fällt denn auch sein Schlußwort aus: knapp, schnörkelos, wie es sich für einen Ingenieur gehört. In zwei Minuten bedankt sich der 66jährige artig beim Gericht für die „sachliche und faire“ Verhandlung, bedauert noch einmal die Toten an der Grenze. Und dann sagt Kleiber einen Satz, der unbeabsichtigt, aber treffend die Szenerie im Saal des Moabiter Justizgebäudes beschreibt: Nicht ein Kollektiv, sondern drei Menschen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten hätten da auf der Anklagebank gesessen. Das Politbüro, wie es so gerne in der Prozeßberichterstattung genannt wird, es besteht schon lange lediglich als begriffliche Hilfskrücke.

Nichts verdeutlicht dies mehr als die Schlußworte von Egon Krenz und Günter Schabowski. Der eine schlüpft noch einmal in die Rolle des letzten DDR-Staatsratsvorsitzenden und will „die Geschichte nicht auf ihr Scheitern“ zurechtgestutzt wissen. Der andere, langjähriger Berliner SED- Bezirkschef, hat schon lange mit seiner Vergangenheit gebrochen. Weil er benennt, was Krenz ausspart, höhnt das orthodoxe Solidaritätskomitee von der Zuschauerbank. Die neue Bundesrepublik, sagt Schabowski, sei die „einzige geschichtliche Anwort auf unseren mißglückten Versuch“. Das sei keine „Seligsprechung“, sondern lediglich die Feststellung, daß diese Gesellschaft im Gegensatz zur DDR „Widersprüche nicht leugnet, sondern anerkennt“.

Alle Verteidiger der Angeklagten haben auf Freispruch plädiert, und doch weiß jeder im Saal, daß dies bei der Urteilsverkündung am kommenden Montag nicht geschehen wird. Die Staatsanwaltschaft hat hohe Strafen gefordert und vor den Politbüromitgliedern sind schon andere verurteilt worden – Mauerschützen, DDR-Generäle.

Krenz und Schabowski ahnen, daß sie wohl irgendwann ins Gefängnis müssen. Ja, Krenz sagt gar, er wolle gar keinen Freispruch. Für einen solchen müßte er sich schämen, solange einfache Soldaten und Generäle der Grenztruppen noch in Haft seien. So sind die Schlußworte der beiden weniger Schlußworte im eigentlichen Sinn, die um Milde plädieren, sondern Bekenntnisse, die irgendwann einmal in Geschichtsbüchern abgedruckt werden sollen. Krenz klammert sich an sein Weltbild („Ich war und bin Sozialist, Herr Richter“), hält nur, ganz der abgetretene Staatsmann, ein internationales Gericht für befugt, überhaupt über ihn richten zu dürfen. Nicht Fairneß und „pflichtbewußte Feststellung der Wahrheit“ sei Ziel dieses Verfahrens gewesen. Schon der damalige Justizminister Klaus Kinkel habe 1991 auf dem Deutschen Richtertag die Justiz aufgefordert, die DDR zu delegitimieren.

Schabowski, der die politisch- moralische Schuld für die Mauertoten nie bestritten hat, distanziert sich von Krenz. Er tut dies unausgesprochen, aber jeder Satz ist meilenweit von Krenz' Auslassungen entfernt. Ein System, das ohne die Toten an der Mauer um seinen Bestand fürchten mußte, delegitimiere sich in der Tat selbst: „Dazu braucht es keinen Auftrag eines Justizministers.“ Krenz und Schabowski – das sind an diesem Tag die Antipoden der untergegangenen SED. Trotzig der eine und im Duktus der Sprache von gestern – „Der sozialistische Versuch auf deutschem Boden war meine Sache“ –, selbstkritisch bis zur Schmerzgrenze der andere: „Als wir versuchten, es besser zu machen, war unser Kredit längst verbraucht, es sei denn, wir hätten überhaupt einen gehabt.“

Noch einmal trägt Krenz das Repertoire seiner Verteidigung vor: Die DDR sei zwar souverän gewesen, aber eben doch nicht in Grenzfragen, wo nichts ohne die Sowjetunion gegangen sei. Einen Schießbefehl habe es nicht gegeben, wohl aber einen Befehl, im Herbst 1989 keinen Schuß abzugeben. Schabowski hingegen fühlt sich ungerecht behandelt, wirft dem Staatsanwalt vor, seine Aussagen „in ein opportunistisches Zwielicht“ gerückt zu haben. Am Ende sagt er, und es klingt fast so trotzig wie bei Krenz: Es brauche mehr Courage, den bitteren Weg der Selbsterkenntnis einzuschlagen, als sich ihm „durch Flucht in die Nestwärme eines Klubs von Unbelehrbaren zu entziehen“.