"Nur so auf der Straße rumstehen"

■ Der Londoner Computerkünstler und documenta X-Gast Heath Bunting engagiert sich für einen einfachen Zugang zum Netz. Bewußt vermitteln dort seine unter dem Kennwort "irational.org" versammelten Arbeiten d

In seinen Memoiren „Geständnisse eines Opiumessers“ (1821) beschreibt Thomas DeQuincey, wie er ohne Ziel und ohne Stadtplan durch die Straßen von London streift. Oft findet er sich dabei nach langen Wanderungen ohne Orientierung in Gegenden wieder, in die er auf seinen normalen Wegen nie gekommen wäre: „Manchmal wollte ich fast glauben, daß ich der Entdecker einer Terra incognita sei, und verzweifelte gar daran, daß diese Gegenden in modernen Karten von London verzeichnet waren.“

Heath Bunting ist ein Flaneur in der Tradition DeQuinceys. Auch er ist auf der Suche nach Terra incognita durch die Innenstadt von London gestreift. Auf seinen Stadtwanderungen hat der britische Künstler die Wände der Orte, die er bei seinen „derives“ entdeckte, mit geheimnisvollen Graffiti bemalt. Inzwischen operiert der 31jährige vorwiegend im Internet. Seine Netzarbeit „A Visitor's Guide to London“ ( http://www.irational.org ), mit der Bunting in diesem Jahr an der documenta teilnimmt, ist ein „psychogeographischer Stadtführer“ durch die britische Hauptstadt, der den Betrachter in übersehene Ecken von London mitnimmt. In einem Interview mit der taz erzählt Bunting, wie er vom Streunen in der Stadt zum Surfen im Netz kam.

taz: Wie kommt man vom Graffitimalen dazu, Internetseiten zu programmieren?

Heath Bunting: Ich mache noch Graffiti. Ich bin letzte Woche erst wieder in London wegen Graffitimalens verhaftet worden. Ich benutzte dabei Kreide aus der Themse. Ich mag Kreide, weil sie flüchtig ist und nicht so nach HipHop aussieht. Normalerweise kann man mit Kreide malen, ohne daß die Leute denken, daß du etwas Illegales machst. Wenn man einen Filzstift oder eine Sprühdose verwendet, wissen sie gleich, daß man rebellisch sein will.

Aber warum malst du als Künstler überhaupt Graffiti und nicht zum Beispiel Ölgemälde?

Weil ich mir nie die Farben dafür leisten konnte. Kreide ist sehr billig. Mit einer Schachtel für 40 Pence komme ich eine Woche lang aus. Ich will Sachen machen, die auf jeden einen Effekt haben. Graffiti ist auf der Straße, und jeder sieht sie, auch wenn man vielleicht gar nicht darauf achtet.

Die Vorstellung, daß die Straßen ein öffentlicher Raum sind, ist in den letzten Jahren etwas fragwürdig geworden, wo immer mehr Shopping-Malls aus dem Boden schießen und auch Straßen zu Privateigentum werden...

Dadurch, daß man auf die Straße geht und dort öffentlich etwas macht, erobert man sich diesen Raum aber auch wieder ein Stück weit zurück. Darum geht es auch in meinem Internetprojekt „A Visitor's Guide to London“. Es handelt von Dingen, die wir damals in London gemacht haben, wie wir uns bestimmte Orte in der Stadt für eine gewisse Zeit angeeignet haben. Ich könnte dir über jeden Ort, den man auf den Bildern in „A Visitor's Guide to London“ sieht, und über die Dinge, die wir dort getan haben, eine Geschichte erzählen.

Laut Untertitel ist „A Visitor's Guide to London“ „psychogeographisch“. Was meinst du damit?

Die Arbeit bestand vor allem darin, sechs Monate ohne ein bestimmtes Ziel durch London zu laufen. Und dabei habe ich mich immer wieder an bestimmten Orten wiedergefunden, bin immer wieder dieselben Wege gelaufen. Ich habe mich gefragt, warum ich immer wieder die gleichen Strecken gegangen bin, und dabei habe ich unterirdische Flüsse oder römische Mauerreste entdeckt, die meine Wege zu bestimmen schienen, ohne daß ich sie bewußt wahrnahm. Solche Sachen nennt man Psychogeographie.

Als ich neulich versucht habe, dir eine E-Mail zu schicken, habe ich sie zurückbekommen, weil sich deine E-Mail-Adresse verändert hat; es ist nicht mehr dein Name, sondern nur noch eine Nummer. Ist das auch ein Kunstprojekt?

Ich wollte etwas gegen die Werbe-Mails tun, die ich an meine alte Adresse geschickt bekam, darum habe ich die Idee gehabt, eine algorithmische Identität zu entwickeln. Ich ändere meine E-Mail-Adresse jetzt jeden Monat auf eine Art und Weise, die Menschen sehr leicht erraten können, aber Computer nicht. Ich nehme den Monat und das Jahr, also etwas, was fast alle Leute kennen müßten. Im Augenblick ist meine E-Mail-Adresse zum Beispiel .... Jeden Monat wird die alte Adresse gelöscht, und wer etwas an diese Adresse schickt, bekommt eine automatisierte Antwort, in der es heißt: Diese Identität ist ausgelaufen, bitte schicken Sie Ihre Mail an folgende Adresse ... Seit ich das gemacht habe, ist meine E-Mail von 50 auf 5 pro Tag zurückgegangen. Und ich bekomme keine doofen Mails mehr.

Hat es deiner Karriere als Künstler genützt, daß du im Netz gearbeitet hast?

Oh ja, auf jeden Fall. Ich wollte das nicht, aber ich habe zugelassen, daß es passiert. Daß ich jetzt an der documenta teilnehme, ist sehr problematisch für mich. Ich wollte das nie. Das ist erst meine vierte Ausstellung überhaupt. Das ist für mich alles noch neu, und ich muß mir jetzt wirklich Gedanken darüber machen. Ich glaube, ich möchte kein Künstler werden, der Waren produziert, weil das meine Arbeit und das, was ich sagen will, korrumpieren würde. Ich werde mich übrigens im November als professioneller Künstler zurückziehen und mich eine Zeitlang verstecken. Dann komme ich zurück und verlange mehr Geld. Seit ich ein professioneller Künstler geworden bin, arbeite ich viel mehr, und ich muß mich in bestimmten Situationen anständig benehmen.

Und was willst du dann machen?

Ach, wahrscheinlich nur so auf der Straße rumstehen. Vielleicht was im Netz machen. Aber vielleicht gibt's ja dann auch ein neues Medium. Das Netz ist in der letzten Zeit zu einer Ersatzreligion geworden: die Religion der Virtualität. Und wenn ich so was sehe, dann versuche ich es zu unterwandern. Ich mache gern Sachen kaputt. Das ist nämlich mein geheimer Plan: die Zivilisation zu zerstören (lacht).

Betrachtest du deine Netzprojekte als subversiv?

Ich versuche Sachen zu machen, die eine Diskussion auslösen. Im Augenblick mache ich ein Projekt mit Suchmaschinen. Was im Netz wirklich anliegt, ist die Frage von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Netz, und dabei sind die Suchmaschinen ganz wichtig. Heute kaufen Unternehmen ihren Platz in der Hierarchie der Suchmaschinen. Ich tue dasselbe mit Programmiertricks. Wenn man zum Beispiel zu der Suchmaschine Webcrawler geht und „Nike“ eintippt, dann sind die ersten zehn Adressen, die man bekommt, Seiten von mir. Alles, was auf denen steht, ist „This URL is for rent“, und Nike können die von mir mieten.

Viel Geld kann man mit solchen Projekten wohl nicht verdienen...

Doch, aus mindestens der Hälfte meiner Projekte könnte man ein Geschäft machen. Ich habe zum Beispiel mal eine Woche im Netz gebettelt und bekam 1.500 Pfund geschickt. Ich hatte ein Formular programmiert, mit dem man mir über eine Kreditkarte eine Spende schicken konnte, und das Formular habe ich dann in den Gästebüchern von Unternehmen und Regierungen untergebracht. Viele Leute fanden das unterhaltsam und haben mir Geld geschickt. Ich habe das aber nicht zu Bargeld gemacht. Ich nehme an, die meisten Kreditkartennummern waren sowieso von gestohlenen Kreditkarten. Und es interessiert mich auch nicht, Geschäfte zu machen.

Stört es dich, daß solche Projekte von fast niemandem wahrgenommen werden?

Ich vermute mal, daß 90 Prozent von dem, was ich gemacht habe, nicht mehr existiert, besonders die Sachen, die ich auf der Straße getan habe. Wenn man seine Arbeit dokumentiert, macht man sie automatisch zur Ware. Eine Dokumentation kann man verkaufen, und das versuche ich zu vermeiden. Ich habe noch nie eine meiner Arbeiten verkauft.

Mir ist aufgefallen, daß viele Netzkünstler dauernd auf Reisen sind. Glaubst du, daß das dem Medium Internet, das Reisen eigentlich vermeiden hilft, paradoxerweise irgendwie inhärent ist?

Für mich ist das eine Methode, um mich zu finanzieren. Ich werde dafür bezahlt, Vorträge zu halten. Im Augenblick wäre es mir auch zu langweilig, eine Wohnung zu haben. Ich bin seit Juni 1996 ununterbrochen auf Reisen. Dieses Reisen von Veranstaltung zu Veranstaltung ist für mich ein Weg herumzukommen, ohne dauernd im Freien schlafen zu müssen. Und das Internet ist die Technologie, die das möglich macht. Interview: Tilman Baumgärtel