Von der Selbstsucht Geist und Schönheit

Richard Herzinger ruft dazu auf, sich dem neuen Gemeinschaftswahn mit seiner absurden Forderung nach Verzicht und Bußübungen zu verweigern und sich zur oft verleumdeten Produktivkraft des Egoismus zu bekennen  ■ Von Friedrich Balke

Amüsiert euch nicht zu Tode! Denn wer zuviel fernsieht, vergeht sich gegen die abendländische Kultur und untergräbt die moralischen Grundlagen des Gemeinwesens. Bleibt gesund! Denn das hilft den Krankenkassen und erspart euch die Kopfschmerzen am nächsten Morgen! Kauft weniger und spart statt dessen, denn wenn ihr erst alles besitzt, gibt es keinen Anreiz mehr, der euch die Arbeit versüßt. Bringt Opfer, denn keine Gemeinschaft kommt ohne Opfer zustande noch vermag sie sich ohne die fortdauernde Bereitschaft zu Opfern am Leben zu erhalten. Sucht ein (imaginäres) Territorium (Nation, Kultur, Heimat, Identität), wenn ihr dem Prozeß des Verfalls der Werte („Nihilismus“) und der Auflösung aller Bindungen, den die Moderne organisiert, entrinnen wollt; und wem es schwer fällt, Opfer zu bringen, der stilisiere sich wenigstens zu einem Opfer (der verschiedenen Gewalten, die uns fest im Griff haben, einschließlich der „strukturellen“), weil ihm auf diese Weise erspart bleibe, seinen Anspruch im eigenen Namen vorzubringen. So sieht die Serie von Imperativen der „Tyrannei des Gemeinsinns“ aus, deren Anatomie Richard Herzinger in seinem neuen Buch freizulegen sucht.

Die notorischen Verächter des Egoismus, gleich welche Färbung sie ihrer Aversion im einzelnen zu geben wissen: Herzinger knöpft sie sich alle vor und gewährt niemandem Pardon. Von Michael Walzer und Charles Taylor über Hans Joas bis rauf zur Gräfin Döhnhoff und zum Bundespräsidenten, keiner wird vergessen. Ein Hauch von High-noon durchweht das Buch; Vom ersten Satz an läßt sein Autor keinen Zweifel daran, daß den Gemeinsinnigen ihr Waterloo bereitet werden soll.

Dabei zieht Herzinger nicht nur alle Register scharfzüngiger Polemik, die die Lektüre des Buches zu einem ausgesprochenen Vergnügen macht; er beweist bei allen Attacken gegen die „Sauertöpfe des Gemeinsinns“ genügend Gelassenheit, daß er jedes ihrer Argumente, wie plump oder raffiniert es auch gestrickt ist, vorlädt und auf seine Tragfähigkeit überprüft. Die heterogene Koalition der Gemeinsinnigen ist sich bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Argumentation im einzelnen in einem Punkt einig, der gewissermaßen der Abschlußgedanke ihres Räsonnements ist: Die Moderne ist im Grunde „krank“.

Selbst wenn man ihre Unvermeidbarkeit zugibt und keine ihrer Errungenschaften missen möchte, eins ist sicher: Irgend etwas fehlt ihr, aus sich selbst heraus ist sie nicht dauerhaft lebensfähig. Immer wieder wird die Legende von der zunehmenden Vereinzelung und Atomisierung der Menschen bemüht, an deren Ende der Leser vor die Alternative gestellt wird, entweder ein völliges Auseinanderfallen der Gesellschaft mit apokalyptischen Konsequenzen in Kauf zu nehmen oder aber dieses Schicksal durch ein mutiges Bekenntnis zur Stärkung noch vorhandener oder zur Schaffung neuer gemeinschaftlicher Bindungen zu wenden. Den so argumentierenden Kommunitaristen macht Richard Herzinger klar, daß sowohl ihre sozialwissenschaftlich verbrämte Diagnose der Moderne als auch ihr nachfolgender Therapievorschlag abwegig sind.

Daß gerade die individualistisch enthemmten „Erlebnisgesellschaften“ die Gemeinschaftsformen ins Unabsehbare wuchern lassen, kann selbst den verbohrtesten Kommunitariern nicht entgehen; woran sie herumnörgeln, ist denn auch nicht das Fehlen von Gemeinschaften, sondern deren Kontingenz: Die einzelnen entscheiden darüber, ob sie dazugehören wollen oder nicht.

Die vormaligen „Schicksalsgemeinschaften“ (Familie, Nachbarschaft, Staat, Nation etc.) sind für die Gemeinsinnigen nach wie vor das Modell für eine authentische, unverfälschte Sozialität. Die Wahrheit über den Kommunitarismus bringt Herzinger daher auf die knappe Formel: „Der Kommunitarismus ist ein Antiliberalismus auf Samtpfoten.“ Selbst Vertreter eines moderaten Kommunitarismus wie Charles Taylor und Michael Walzer, erst recht aber ihre bundesdeutschen Nachbeter finden bei Herzinger keine Gnade, weil auch für sie typisch ist, was für die ganze Richtung gilt: Sie weisen einen „penetranten Hang zur Harmonisierung von Konflikten“ auf und befleißigen sich eines unerträglichen Paternalismus: Wir mögen aber bitte nicht in unser eigenes Unglück rennen, sondern von der Freiheit, die uns nun einmal, wie die Dinge liegen, zugestanden werden muß, einen vernünftigen Gebrauch machen. Damit weigern sich die Kommunitaristen, das spezifische Ethos einer liberalen Gesellschaft anzuerkennen, das, um es ungeschminkt zu sagen, nicht bloß „egoistischer“ Natur, sondern anarchisch-asozialer Art ist. Die Freiheit konstituiert nichts, wie schon Mazzini wußte.

Der Höhepunkt des Buches ist denn in meinen Augen auch nicht das effektvoll inszenierte Finale („Laßt uns endlich in Ruhe!“), sondern ein „Lob des Egoismus“ überschriebener Exkurs, in dem sich literarische und realgeschichtliche Verräter an der „gemeinsamen Sache“, am „revolutionären Auftrag“ die Hand reichen; der Kriegsheimkehrer Kragler aus Brechts Komödie „Trommeln in der Nacht“, der lieber mit seiner Braut ins Bett geht, als beim Spartakusaufstand mitzutun, und die „unverantwortlichen Abhauer“ der vormaligen DDR, die „Helden des Fersengeldes“, wie sie Herzinger poetisch nennt, die im Sommer 89 nicht mehr aus dem Urlaub zurückkehrten und keine Lust hatten, auf heimischem Territorium die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht zu suchen, um womöglich die Weichen für einen damals diskutierten „dritten Weg“ zu stellen.

„Glotzt nicht so romantisch! Ihr Wucherer!“ sagt Kragler gegen Ende des Brecht-Stücks, nachdem er seine Nichtteilnahme am Klassenkampf mit den von Herzinger zitierten Worten kommentiert: „Ich bin ein Schwein, und das Schwein geht heim.“ Die Wucherer sind hier ausnahmsweise einmal nicht die des Kapitals, sondern die des Sinns, also Intellektuelle, die, wie der französische Aufklärer und Materialist Helvetius sagt, „interessierte Irrtümer“ verbreiten, die den Menschen den Blick auf das verstellen, was ihnen doch eigentlich am nächsten liegen müßte: ihr eigenes Selbst. Herzinger situiert sich, ohne darüber ein Wort zu verlieren, auf der Linie einer solchen militanten Aufklärung, für die alle Religion, wie man weiß, in letzter Instanz Priesterbetrug ist.

Aber hier sind wir auch schon bei den problematischen Aspekten des Buches: Herzinger situiert die Politik nach wie vor in der Dimension der Wahrheit über den Menschen und ist davon überzeugt, diese Wahrheit zu kennen: „Der Egoist sagt die Wahrheit“, heißt es lapidar, und ein Buch, das zu Recht Hohn und Spott über die anthropologischen Spekulationen der „Sonderabteilung Spaßbekämpfung“ ausgießt, ist sich im Gegenzug absolut sicher, den Egoismus als eine der „fundamentalen anthropologischen Wahrheiten“ beweisen zu können.

Herzinger, der Vorwurf kann ihm nicht erspart werden, befindet sich noch im „anthropologischen Schlummer“ (Foucault). Er versteigt sich sogar dazu, die populärwissenschaftlichen Spekulationen Richard Dawkins über einen vermeintlichen „Egoismus der Gene“ für bare Münze zu nehmen. Der schwächste Satz des Buches lautet daher: „Mit Dawkins' Erkenntnis im Bewußtsein kann uns die Existenz der Selbstsucht nicht mehr so sehr erschrecken.“

Aber der Egoismus ist überhaupt keine wissenschaftliche Kategorie, sondern ein Kampfbegriff: Er ist ebensowenig ein Schlüssel zum sogenannten „Wesen des Menschen“, wie es die entgegengesetzten Auffassungen sind, die für Altruismus votieren.

Herzingers Hinweise auf Brecht, auf Heiner Müller und natürlich auf den in diesem Zusammenhang unvermeidlichen Shakespeare („Richard III“) hätten ihm klarmachen müssen, daß die Suche nach einer wissenschaftlichen Absicherung liberaler Politik in eine Sackgasse führt.

Das Ego ist kein unzerstörbarer „Kern“ des Menschen, es wird nicht entdeckt, sondern erfunden, es konstruiert sich, wie der amerikanische liberale Ironiker Richard Rorty zeigt, den Herzinger, der nur einmal kurz mit der Fußspitze streift, halb bewußt, halb unbewußt, über Prozesse der Neubeschreibung seiner selbst, die im weitesten Sinne künstlerischer Art sind. Wenn Kragler am Ende von Brechts Stück sich selbst als „Schwein“ beschreibt, dann ist das keine Enthüllung seines wesensmäßigen Egoismus, sondern eine hochgradig literarisierte und dabei pathetische Gegenidentifikation mit den Zumutungen der politisch Korrekten in seiner proletarischen Umgebung. Daß sich Herzinger für die Prozesse der Selbstkonstruktion nicht sonderlich interessiert, sondern im Ego nach Descartes und Stirner aufs neue einen archimedischen Punkt freizulegen versucht, rechtfertigt es, daß man ihn einen liberalen Metaphysiker nennt.

Natürlich nimmt er das diskreditierte Wort der Emanzipation nicht in den Mund: Aber sein Text funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß man bereit ist zu glauben, einzig die Wahrheit des Egoismus habe die Kraft, uns von der Tyrannei der Gemeinschaften und ihrer Prediger zu befreien. So nimmt es denn auch nicht wunder, daß das Buch immer wieder in den Ton der liberalen Gegenpredigt verfällt. Aber an seinen besten Stellen, und deren sind viele, läßt es keinen Zweifel an einer nachmetaphysischen Inspiration: Es kommt nicht so sehr darauf an, „ich“ zu sagen, als „ich“ zu tun.

Richard Herzinger: „Die Tyrannei des Gemeinsinns. Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft“. Rowohlt, Berlin 1997, 200 Seiten, geb., 36 DM