Über Wasser halten

■ Ein LOTSE durch Krisensituationen: 20 Jahre Lebenshilfe in Wilhelmsburg

Der Bosnier klagte über Kopfschmerzen. Eigentlich aber war er depressiv. Im Gespräch stellte sich denn auch schnell heraus, daß ihm sein Alterstraum – ein Haus in seinem heute von Serben besetzten Dorf – quasi weggebombt worden ist. „Die Lebensenttäuschung der älteren ausländischen Wilhelmsburger ist oft ganz massiv“, sagt Matthias Glatzer, Diplompsychologe in der Beratungsstelle LOTSE, die gestern20 Jahre alt wurde.

Viele bosnische Familien seien emotional zerrissen, etwa weil der Bruder mit einer Serbin verheiratet ist, berichtet Gründungsmitglied Glatzer. Die älteren PortugiesInnen, ItalienerInnen und GriechInnen hatten zwar keinen Krieg in ihrer Heimat, aber ihre FreundInnen sind auf zwei Länder verteilt. „Da fällt es schwer, den Zeitpunkt für den Weggang festzulegen.“

Die Folge: Verstimmungen, die den MigrantInnen psychosomatisch auf den Magen schlagen oder im Nacken sitzen. „Aber auch wenn sie den Schritt in die Beratung getan haben, fallen sie nicht mit der Tür ins Haus“, erzählt die Sozialpädagogin Anke Eschmann. Sondern sagen eher: „Der Doktor hat gesagt, ich soll mal reden.“

Der LOTSE bietet seit 1977 ambulante psychiatrische Versorgung, Beratung und Krisenintervention – zum Beispiel bei Suizidgefahr. Ad hoc ist es der Beratungsstelle meist nicht möglich, die Sorgen aufzulösen. Zumal viele Ratsuchende unter der Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden Verarmung leiden. Die Arbeit der LOTSEN-Mitarbeiter besteht oft über Wochen allein darin, die KlientInnen psychisch „über Wasser zu halten“.

Für viele BesucherInnen ist der LOTSE die letzte Anlaufstelle. „Wilhelmsburg ist wie eine Insel“, sagt Eschmann, „von hier fährt niemand über die Elbe in die Stadt, wenn er nicht weiter weiß.“

Durchschnittlich kommen jedes Jahr 450 Ratsuchende ein oder mehrmals zum LOTSEN, davon rund 18 Prozent Migranten. An die Beratungsstelle sind vier Plätze für betreutes Wohnen für Menschen mit chronischen Psychosen angeschlossen, für diese Plätze springt häufig die Fußballaltherrenauswahl Wilhelmsburg als Sponsor ein. Lisa Schönemann