Eine Nacht für Verliebte in Nordenham

Die „Stadt zwischen Grün und Meer“, also zwischen allen Stühlen, bietet mehr als nur Regen, Giftgranaten, Dünnsäure, hochkontaminierte Böden, Bleivergiftungen, ein Atomkraftwerk, Asbestskandale, Pfahlsitzen und andere schwer vermarktbare Problembereiche  ■ Text und Fotos: Burkhard Straßmann

Fachleute sagen, es habe mit der Erddrehung zu tun: Fährt man nämlich mit dem Auto auf der linken Weserseite von Bremen nach Nordenham, stehen bei Ankunft 80 Kilometer auf dem Tacho. Fährt man rechtsweserisch nach Bremerhaven, welches gegenüber von Nordenham liegt, ist man schon nach 60 Kilometern da. Ergo: Das rechte Weserufer ist kürzer. Aus diesem Grund – und weil man Urlaub von Anfang an haben will – fahren wir als Nordenham-Urlauber oder Tagesgast auf der rechten Weserseite bis zur Fähre Dedesdorf-Kleinensiel, die man schon des Namens wegen küssen würde, wenn das nicht so komisch aussähe. In Dedesdorf setzen wir bei Hochwasser über, damit es länger dauert (Gezeitenzeiten in Ihrer Tageszeitung!). In Kleinensiel angelangt, begrüßt uns das Kernkraftwerk Unterweser.

Das Kernkraftwerk Unterweser bietet an: „Angebot zum Dialog im Kommunikationszentrum“. Man sollte Angebote nie leichtfertig ausschlagen. Das Kommunikati-onszentrum liegt ganz nah bei der symbolstarken weißen Atomkugel.

Drinnen geht die Kommunikation so: Man drückt auf ein Knöpfchen, und um ein rotes Lämpchen herum, welches die Kettenreaktion symbolisiert, scheinen nach und nach sieben Sicherheitshüllen auf, so sicher ist das Atomkraftwerk. Dann kann man messen, wie groß schon die natürliche Strahlung einer Armbanduhr ist. Und schließlich wird man informiert, daß es 100 Prozent gesünder ist, ein Jahr lang in der Nähe des AKW zu wohnen, als einmal mit einem Jet zu den Kanaren zu fliegen. Da sind wir beruhigt: Der Ausflug nach Nordenham wird uns so schnell nicht krank machen. Wenn beim Verlassen des Sicherheitsbereichs schwere Wolken am Himmel hängen, läßt sich noch schnell das beliebte Foto vom weißen Atomkraftwerk vor düster drohenden Wolken schießen.

Zehn Kilometer bis Nordenham. Die meisten Menschen, auch gutwillige, fahren an Nordenham vorbei und landen in Burhave, Fedderwardersiel oder an der Fähre nach Bremerhaven (fährt halbstündlich). Kluge Nordenham-Förderer hätten an der B 212 schon längst ein Schild aufgestellt: Halt! Hier Nordenham! Die Stadt der Unverdrossenen! Dunkle Wolken, die über dem Atomkraftwerk nur hängen, ergießen sich nämlich gern über Nordenham. Doch wenn es regnet in Nordenham, lacht der Nordenhamer nur, zieht eine gelbe Plastikjacke an und behauptet, drüben, in Bremerhaven, sei das Wetter noch viel schlechter. Man habe hier schon gegrillt, während die Bremerhavener knietief im Wasser wateten. So unverdrossen ist der Nordenhamer.

Statt Halt-Schilder aufzustellen, haben sich die Nordenham-Förderer den Spruch ausgedacht: Nordenham – Stadt zwischen Grün und Meer. Erstens reimt sich das nicht, zweitens findet man auch als Nicht-Germanist keinen Stabreim. Drittens denkt man sofort: Nordenham – Stadt zwischen allen Stühlen. Das stimmt zwar, aber damit macht man keine Werbung. Denn was könnte schon liegen zwischen Grün und Meer? Schlick? Ausgedehnte Fabrikanlagen? Hochkontaminierte Böden? Das „Be Yourself“-Studio der Visagistin Helga Sonnentag? Ja, das alles könnte da liegen, und es liegt auch tatsächlich da.

Nordenham-Förderer sollten nicht mit Nordenham als Lücke argumentieren, sondern mit Helga Sonnentag. Oder mit: „Wo die B 212 im Meer versinkt“. Oder mit: „Nordenham am Sack der Bahn“. Oder mit: „Die Stadt, die ihr letztes, genauer vorletztes ,m' auf dem Altar der Nordenhamer-britischen Freundschaft opferte“. In Nordenhamm sollte nämlich vor vielen Jahren ein englischer Getreidehändler investieren. Man opferte ihm vorauseilend ein „m“, damit „Nordenham“englischer aussähe, was auch funktionierte, die Ansiedlung indes nicht.

Realismusanbeter würden sagen: Nordenham (einheimische Antifaschisten schreiben auf ihren Flugblättern gern „N'ham“, wenn sie darauf hinweisen wollen, daß es möglicherweise Faschisten in N'ham gibt, aber selbst wenn dem nicht so wäre, die „prophylaktische AntiFa-Arbeit enorm wichtig“ist), N'ham also sei eine Fabrikarbeitersiedlung, die nicht an der Weser liegt, weil die Fabriken an der Weser liegen. In N'ham wird Titanweiß erzeugt, werden Unterseekabel hergestellt, werden fossile Brennstoffe gelagert, wird Blei verhüttet, werden Airbus-Bleche geschmiedet.

Es ist kein übergroßes Wunder, daß nur zwei Prozent aller jemals über N'ham geschriebenen Zeitungsartikel vom Nordenhamer Pfahlsitzen handeln, 95 Prozent indes von Dünnsäureverklappung, Giftgasgranaten, Asbestskandalen, Atomtransporten und ähnlichen von Tourismusexperten schwer zu vermarktenden Themen. Zumal der einzige öffentliche Zugang zur Weser hinter dem Bahnhof rechts liegt und man zwischen beeindruckenden Öltanks und dem Atomkraftwerk am verschlickten Strand nicht baden darf. Die Tourismusexperten arbeiten am Image von N'ham nach der Devise: „So schlimm ist Nordenham nicht“, wie man während der regelmäßigen Stadtführungen (jeden 1. und 3. Freitag im Monat, 15 Uhr, Treffpunkt altes Rathaus) hocherfreut zu hören bekommt.

Rosa-Brillenträger würden sagen: Wunderbar, daß es die Stadt Nordenham noch keine hundert Jahre gibt; da konnte sich noch keine restriktive Baurichtlinienkompetenz entwickeln, jeder pinselt die Fassadenfarbe auf sein Eigenheim, die gerade im Sonderangebot ist, herrlich bunt hier, und kein Haus gibt es ohne Anbau plus überdachtem Balkon plus mehrere Schuppen plus Sitzecken noch und nöcher. Das lustigste Maklerangebot des Monats August: Einfamilienhaus Innenstadt, gepflegt, überdachte Terrasse, mit sieben Garagen. Sieben! Ein Traum für lumpige 250.000 Mark!

Kunst- und Kulturkritiker würden sich freuen, so schnell mit N'ham fertig zu sein: Ein Brunnen voller wasserspeiender Penisse am Markt, der uns wahrscheinlich an das explosionsgleiche Wachsen der jungen Stadt erinnern soll (1939: 19.511 Einwohner, heute fast 30.000). Und leicht dezentral eine Stadthalle, die mit einem derart jeder Beschreibung spottenden Lila angemalt ist, daß man nicht zögert, diese Farbe ab sofort „Nordenhamer Lila“zu nennen. Außerdem gibt es ein Wilhelm I.-Denkmal aus poliertem Granit. Fertig.

Wir Nordenham-Touristen und Tagesausflügler indes scheren uns nicht um die Urteile vermeintlicher „Experten“, sondern lassen uns auf den Draußenstühlen des „Journal“in der Bahnhofstraße nieder, wie es unsere Art ist. Das Journal ist weiß gestrichen, Fenster und Türen schwarz, drinnen Dartpfeile werfen, draußen klebrige Bisquitrolle essen. Die Jugend des Ortes tost im Kadett 1.4 (Einspritzer!) oder in einem Honda CRX vorbei, trägt winzig kleine Sonnenbrillen und hört Umb-umb-umb-Musik. Wir staunen, und die Jugend freut sich. So bescheiden ist die Nordenhamer Jugend!

Das Abendessen nehmen wir – ganz klar, keine Frage – beim irrwitzigsten aller Chinesen nördlich der Donau, dem Ni Hao, ein. Ni Hao ist eher kein Anagramm von „Hanoi“, erinnert aber doch an das schwäbische „ha noi!“(nicht doch!). Ni Hao ist unglaublich: Ballsaalgroß, purpurn angemalt, innen fließen Bäche. Man hat die Auswahl zwischen 160 Gerichten! Wo schon jeder herkömmliche Chinese mit goldenen Drachen und einer überbordenden Inneneinrichtung das Gesicht seiner Straße verändert, prägt dieser hier mit seinem freßtempelmäßig inszenierten Pracht gleich das Gesicht der ganzen Stadt.

Nehmen wir an, wir sind verliebt. Verliebte kommen auf solche Gedanken: eine Nacht in Nordenham! Verliebte neigen dazu, den Pfennig nicht umzudrehen, den man im Hotel auszugeben gedenkt. Wir melden uns im ersten Haus am Platz, dem Hotel am Markt. Wir bestehen auf dem Eckzimmer 309. Wir erschrecken nicht über 160-Mark-aber-inklusive-Frühstücksbuffet.

Wir verbringen die Nacht, wie es nur Verliebten gelingt. Morgens bestellen wir uns einen Café au lait aufs Zimmer. Außerdem sollte Dienstag oder Freitag sein. Wenn wir dann das Fenster öffnen und die Augen schließen, auf daß uns das im nordwestdeutschen roten Normklinker gehaltene Marktplatz-Ensemble entgehe mit all seinen zipfeligen Zier- und Schmuckgiebelchen, so daß nur noch ein putzmunteres und lautstarkes Markttreiben an unsere verliebten Ohren dringt – dann, ja dann stellt sich bei uns mitten in Nordenham, mitten in der Stadt, auf deren Tür zur einzigen Passage das Schild „bitte Tür schließen“steht, also in diesem Niemandsland zwischen Grün und Meer – ein französisches Gefühl ein. Tatsache!