Verdeckte Armut wird immer größer

■ Erstmals untersucht eine Studie die subjektiven Befindlichkeiten der Menschen in Berlin und Brandenburg

Die verdeckte Armut in Berlin ist größer als bisher angenommen. Fast jeder sechste Hauptstädter, der bei einer kirchlichen Beratungsstelle Hilfe sucht und dessen Einkünfte unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegen, möchte dennoch von seinem Anspruch auf Sozialhilfe keinen Gebrauch machen. Das ist ein Ergebnis einer Studie über die Lebenslagen von armen Menschen in Berlin und in den neuen Bundesländern, die der Caritasverband und das Diakonische Werk in Auftrag gegeben haben. Die Verbände hatten in über 800 kirchlichen Beratungsstellen 2.400 BesucherInnen befragt, 400 davon in Berlin und Brandenburg.

Neu an der Studie ist, daß nicht nur wirtschaftliche, sondern auch „weiche“ Daten berücksichtigt wurden. So wurde beispielsweise nach der Lebens(un)zufriedenheit gefragt oder nach dem subjektiven Wohlbefinden, das nach Kriterien wie Ängsten und Sorgen, Nervosität und Erschöpfungszuständen beurteilt wurde. Auch mögliche Eigeninitiativen, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, sowie Konsumgewohnheiten spielten in der Studie eine Rolle.

In Brandenburg ist die verdeckte Armut allerdings noch gravierender. Dort kommen auf 10 Sozialhilfeberechtigte 19 Fälle verdeckter Armer. Daß es in Berlin verglichen mit Brandenburg relativ wenige sind, nämlich nur 4 Fälle, ergibt sich daraus, daß auch der Westteil der Stadt mit einbezogen wurde. So schätzt Oberkirchenrat Martin Ziegler, der die Studie gestern vorstellte, daß man im Ostteil der Stadt von 17 „verdeckt Armen“ ausgehe müsse – das entspricht dem Durchschnitt in den neuen Bundesländern.

Ein Blick in die Studie liefert eine plausible Erklärung für die verdeckte Armut in Ostberlin und Brandenburg. Ein Drittel der Betroffenen empfindet es demnach als „unangenehm“, zum Sozialamt gehen zu müssen. Viele seien zudem nicht ausreichend über ihre Rechte informiert. Die Erklärung: „In der ehemaligen DDR bezogen nur 0,03 Prozent der Bürger die sogenannte Sozialfürsorge“, sagt Martin Ziegler. „Da es ein – wirklich existentes – Recht auf Arbeit gab, wurde jeder Arbeitslose als asozial angesehen. Diese Scham empfinden die Menschen in Ostdeutschland auch heute noch.“

In der Verschuldung der befragten KlientInnen rangiert Berlin allerdings weit vor Brandenburg. So steht jeder zweite Hauptstädter in den roten Zahlen, in Brandenburg sind es knapp 41 Prozent. Damit liegen die Berliner auch in Ostdeutschland an der Spitze. Laut Studie wird jedoch versucht, möglichst nicht bei den eigenen Kindern zu sparen.

Die Untersuchung zeigt laut Ziegler, daß sich zwar das soziale Netz der BRD auch im Osten bewährt habe, neue Armut jedoch nicht verhindern konnte. Dies spiegele sich in der Unzufriedenheit der Befragten. Mehr als ein Drittel in Berlin und Brandenburg äußerte sich sehr negativ über ihre Lebensumstände. Sabine Möhring