Wie klone ich die ideale Boygroup?

■ Das Geheimnis des Jungen-Band-Booms liegt in der perfekten Verkaufsstrategie: No sex, no drugs, nur Rock'n'Roll für die Musiker. Mädchen wollen lebendige Kuscheltiere

Was für ein Glück, daß die Rolling Stones ihre Karriere schon in den 60ern begonnen haben. Die neunziger Jahre sind nichts für die Herren Jagger, Watts, Wood, Wyman und Richards. Wären die Rock-Opas heute noch mal 18 und auf dem Weg zum ersten Vorstellungsgespräch bei der Plattenfirma, würde man ihnen den Stempel „Boygroup“ aufdrücken.

Mit Boygroups hat es die Musikindustrie geschafft, Erfolg berechenbar zu machen. Als Ende der achtziger Jahre die weißen Teenie- Pop-Rapper „New Kids On The Block“ aus den USA über den Atlantik gespült wurden, stieß man angesichts solch geballter Ladung Synthetik noch ein angewidertes „Iiiih“ aus. Als aber bekannt wurde, daß die New Kids in sechs Jahren 860 Millionen US-Dollar eingespielt hatten, wich das „Iiiih“ einem bewundernden „Aaaah“, und inzwischen hat sich jede Plattenfirma ihre eigenen tanzenden Duplikatenesel angeschafft.

Das Verfahren, nachdem die geklonten Boygroups erschaffen werden, ist denkbar einfach. Man schalte Anzeigen, blättere in Fotokatalogen von Model-Agenturen und lade die 300 Schönsten zum Casting. Aus ihnen suche man sich fünf Jungs aus, die halbwegs singen können. Dann gebe man den Fünfen Gesangsunterricht, Tanzunterricht und schicke sie anschließend eine Woche lang nach Spanien – zum Braunwerden für das erste Pressefoto.

Fehlt nur noch ein guter Song. Doch der läßt sich kaufen. Zum Beispiel bei Rondo-Music, Londons Adresse für potentielle Top-20-Hits. Hier bekommt man den Hit nach Wunsch, fertig komponiert und getextet. Gewünscht ist Europop: Im Text sollte mindestens zehnmal das Wort „you“ vorkommen und doppelt so oft das Wort „love“. So will es die Zielgruppe, die vor der neuen Boygroup einmal ekstatisch kollabieren soll.

Der nächste Schritt in Richtung Klon-Erfolg ist die Zielgruppenforschung. Frage: Wer sind die Fans? Antwort: Mädchen, 12 bis 16 Jahre alt, schwer pubertierend. Frage: Warum finden die ausgerechnet die Backstreet Boys, 'N Sync oder Caught In The Act so toll? Antwort: Weil ... so süß ist! In den Platzhalter kann ein beliebiger Vorname eines beliebigen Jungen einer beliebigen Boygroup eingetragen werden. Frage: Warum ist denn ausgerechnet ... so süß? Antwort: Weil er so süße Locken und ein so süßes Bärtchen hat.

Wen wundert es bei derart bestechenden Argumenten noch, daß die New Kids On The Block die Hälfte ihrer 860 Millionen US- Dollar mit dem Verkauf ihres Aussehens verdient haben: Fotokalender, bedruckte Bettwäsche, Kuschelkissen. Hinter der Liebe zu den Idolen steckt die Liebe zum Poster an der Wand. Die Zielgruppe irrt gefühlsmäßig in der Grauzone zwischen Kuscheltier und erstem richtigen Feund herum, wo man von heißen Küssen träumt, aber nasse Zungen pickliger Klassenkameraden eklig findet. In die Jungs der Boygroups kann man sich da gefahrlos verlieben; die muß man nicht küssen, sie sind ja sowieso unerreichbar. Die Idole liefern also die Schablone fürs Träumen, ihre Musik den dazugehörigen Soundtrack: ein musikalischer Kuschelteppich.

Doch vor dem Knutschen kommt das Klotzen: 1,5 Millionen US-Dollar kostete der Karrierestart der Backstreet Boys. Bei solch gewichtigen Kapitalanlagen sollte das Risiko einer Bauchlandung klein gehalten werden. Deshalb muß jede Boygroup per Unterschrift zum Dauerlächeln für eine heile Popwelt gezwungen werden. Boygroup-Mitgliedern ist es vertraglich verboten, in der Öffentlichkeit zu rauchen, eine feste Freundin zu haben, über Sex zu reden und zu Fans unfreundlich zu sein. Und wer in Verdacht gerät, Drogen zu nehmen, muß sich einem Bluttest unterziehen. Fällt der positiv aus, ist es vorbei mit der Karriere als lebendes Kuscheltier.

Bei den Backstreet Boys ist alles nach Fahrplan verlaufen: Keine Skandale, dafür jede Menge Teenie-Presse, pro Konzert tausend ohnmächtige Mädchen und doppelt so viele durch die Luft schwirrende Kuscheltiere. Beim Backstreet Boys-Klon 'N Sync (gleiche Heimatstadt, gleiche Musik, gleicher Manager, wenigstens andere Vornamen) wird es ähnlich verlaufen. Doch Eile ist geboten, denn die Halbwertzeit ist kurz. In spätestens drei Jahren sind die Boys keine Boys mehr, und ihre Fans beginnen sich dafür zu schämen, sie jemals gut gefunden zu haben. Die Jungs von 'N Sync und den Backstreet Boys können dann mit 21 Jahren in Rente gehen. Jan Weyrauch.

Vom Autor erschien gerade das Buch „Boygroups – das Teenie- FANomen der 90er“ im Extent- Verlag