Späte Erkenntnis: Der Chef des weltgrößten Tabakkonzerns Philip Morris räumt ein, daß Rauchen tödliche Folgen haben kann. Konsequenzen will er freilich noch nicht ziehen. Erst müßten nicht irgendwelche, sondern seine Forscher bestätigen, da

Späte Erkenntnis: Der Chef des weltgrößten Tabakkonzerns Philip Morris räumt ein, daß Rauchen tödliche Folgen haben kann. Konsequenzen will er freilich noch nicht ziehen. Erst müßten nicht irgendwelche, sondern seine Forscher bestätigen, daß Zigarettenkonsum Krebs verursacht

100.000 Tote sind möglich

Eigentlich weiß es jeder, aber mit manchen Wahrheiten ist das so, daß sie zur Sensation werden, wenn bestimmte Leute sie aussprechen. Rauchen kann töten. Seit gestern ist es offiziell. Keine Wissenschaftlergruppe hat das ausgesprochen, sondern der Vorstandsvorsitzende des weltgrößten Zigarettenkonzerns Philip Morris, Geoffrey Bible.

Zu dem erstaunlichen Eingeständnis kam es im Rahmen eines Verfahrens in Florida, in dem der Bundesstaat 12,3 Milliarden Dollar von der Zigarettenindustrie fordert. Eingeklagt werden die Ausgaben der öffentlichen Hand, die als Behandlungskosten für Raucherkrankheiten ausgegeben wurden.

Bisher hatte sich die Zigarettenindustrie standhaft geweigert, einen Zusammenhang zwischen Rauchen und solch weitverbreiteten Leiden wie Lungenkrebs und Herzinfarkt zuzugeben. Bei der Anhörung in Florida hatte Geoffrey Bible zunächst lediglich behauptet, daß er seine Zigarettenfabriken schließen würde, sollten seine Forscher herausfinden, daß Zigarettenrauchen Lungenkrebs „verursacht“. Doch im Laufe der Befragung, die der Vorbereitung des Schadenersatzverfahrens in Florida dient, räumte Bible „mögliche“ tödliche Folgen des Rauchens ein. Ron Motley, Anwalt des Bundesstaates Florida, fragte Bible: „Würde Philip Morris zugeben, daß ein amerikanischer Bürger, ein einziger, der die Produkte des Hauses Philip Morris seit dreißig oder mehr Jahren raucht, an einer Krankheit gestorben sein könnte, die zum Teil durchs Rauchen verursacht wird?“ Anwort Bible: „Es gibt eine reale Chance, daß einer gestorben sein könnte.“ Nachfrage des Anwalts: „Vielleicht auch 1.000?“ „Schon möglich.“ Nachfrage: „100.000?“ Bible: „Schon möglich.“

Damit hat Philip Morris im Endeffekt zugegeben, daß jährlich 100.000 Menschen durch Zigarettenrauchen umkommen. US-Gesundheitsbehörden gehen von jährlich über 400.000 Toten durch Zigarettenrauchen aus.

Geoffrey Bible ist der zweite Zigarettenhersteller, der die Schädlichkeit des Rauchens öffentlich einräumt. Der erste war im März Bennett LeBow, Vertreter der kleinen Ligett Gruppe, die Chesterfield, L&M und Lark herstellt, gewesen. Er hatte zugestanden, daß Zigarettenrauchen abhängig machen kann, und erklärt, daß die Zigarettenindustrie in ihrer Werbung gezielt Jugendliche in der Absicht anspricht, schon in jungen Jahren Abhängigkeit herzustellen. Ligett hatte außerdem zugesagt, bisher geheimgehaltene Unterlagen der Zigarettenindustrie auszuhändigen. In diesen werden jene Herstellungs- und Vermarktungsstrategien beschrieben, die zu größerer Abhängigkeit der Konsumenten von den Produkten der Zigarettenindustrie führen. Die Aussage Ligetts war der erste Riß in der Verweigerungsfront der Hersteller von Zigaretten. Maßgeblich trug er zum Zustandekommen des 368-Milliarden- Dollar-Deals bei, den die Tabakkonzerne des Landes im Juni mit den Justizbehörden von 37 Bundesstaaten schlossen. Die Zigarettenindustrie verpflichtet sich, über 25 Jahre einen Fonds zur Entschädigung von Rauchopfern und zur Deckung von Behandlungskosten einzurichten und durch den „größten Werbefeldzug der Geschichte öffentlicher Erziehung“ die Zahl der rauchenden Jugendlichen zu senken. Im Gegenzug wurde ihr Schutz vor weiterer gerichtlicher Verfolgung zugesichert. Um wirksam zu werden, muß diese Vereinbarung allerdings erst vom Kongreß gebilligt und dann vom Präsidenten unterschrieben werden. Dies ist bis heute nicht geschehen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde der Pakt von den Politikern und der Öffentlichkeit scharf kritisiert. Viel zu niedrig hätte man den Beitrag der Zigarettenindustrie angesetzt, verfassungsmäßig sei das Abkommen nicht zu halten. Niemand könne Bürgern oder Bundesstaaten das Recht abhandeln, Schadenersatzforderungen vor Gericht zu erheben.

Für andere ist der Deal die Erpressung einer legalen Industrie. Tatsächlich droht gerade der Ligett-Gruppe, die die Vereinbarung erst möglich machte, der Konkurs. Zwanzig Bundesstaaten haben daher in einer Petition gefordert, Ligett von den Zahlungsverpflichtungen für die Tabakopfer zu befreien. Das ganz große Geschäft machen Amerikas Tabakkonzerne allerdings ohnehin nicht in den USA, sondern in Osteuropa und Asien. In den letzten fünf Jahren hat allein Philip Morris seine Verkaufszahlen für Zigaretten im Ausland um 80 Prozent gesteigert und 662,2 Milliarden Zigaretten exportiert.

Die Vereinbarung der Zigarettenindustrie mit den Bundesländern setzt die Klagen gegen sie nicht aus – jedenfalls nicht, bevor sie nicht Gesetzeskraft erlangt. Verfahren wie das in Florida halten den Druck auf die Zigarettenindustrie aufrecht. Klägeranwalt Motley: „Ich gratuliere Philip Morris dafür, daß man das erste Mal seit 40 Jahren offen und ehrlich ist.“ Peter Tautfest, Washington