„Einverstanden E.H.“

Neue Dokumente aus dem SED-Politbüro beweisen, daß es erste Kontakte zur RAF schon im Frühjahr 1977 gab. Material über Menschenrechtsverstöße in Stammheim sollte der DDR für einen Entlastungsangriff auf einer KSZE-Konferenz dienen. Vorabdruck aus dem taz-Journal „20 Jahre Deutscher Herbst“  ■ Von Irene Chaker

Am 26. September 1977, also kurz nach der Schleyer-Entführung, hielt SED-Generalsekretär Erich Honecker eine Rede vor Dresdner Parteiaktivisten. Darin sprach er mit Blick auf die RAF von „verabscheuungswürdigen Horden von Anarchisten und Terroristen“ und beschwor die Gefahr, daß unter dem Vorwand des Kampfes gegen die sogenannten Sympathisanten des Terrors die politische Linke in der Bundesrepublik mundtot gemacht würde. Was Honecker seinen Genossen damals nicht mitteilte, beweisen im SED-Nachlaß gefundene Akten: daß er höchstpersönlich schon am 3. Juni 1977 sein Einverständnis zur Kontaktaufnahme mit den in Stammheim inhaftierten RAF- Mitgliedern gab (siehe Faksimile rechts unten).

Die nach der „Entdeckung“ der RAF-Aussteiger in der DDR in den Medien immer wieder kolportierte Behauptung, das Tête-à-tête des MfS-Obersten Harry Dahl mit Inge Viett im Frühjahr 1978 auf dem Flughafen Schönefeld sei der Beginn der Beziehungen der RAF zur DDR, kann getrost bezweifelt werden. Vielmehr handelte die Staatssicherheit auch hier getreu ihrem Motto als „Schild und Schwert der Partei“: also im politischen Auftrag der SED-Führung.

Was aber war das Motiv, das diese bewog, Kontakt mit der bundesdeutschen Terrorszene aufzunehmen? Auskunft darüber gibt ein Bericht des 1981 verstorbenen Rechtsanwalts Professor Friedrich Karl Kaul an Werner Lamberz, damals Mitglied des SED-Politbüros. Lamberz galt als Honeckers Kronprinz, kam aber 1978 bei einem Hubschrauberabsturz unter mysteriösen Umständen in Libyen ums Leben.

Wie immer bei diskreten Ost- West-Vermittlungen, die als Chefsache galten, spielte auch hier ein Rechtsanwalt die Schlüsselrolle, der das unbedingte Vertrauen der SED-Führung hatte. Kaul, jüdischer Kommunist und Verfolgter des NS-Regimes, hatte sich auch in der Bundesrepublik einen Namen gemacht, als Hauptprozeßbevollmächtigter der KPD 1956 sowie vor allem als Nebenkläger von Opfern des Nationalsozialismus in KZ-Prozessen.

Wie aus seinem Bericht an Lamberz hervorgeht, traf er sich am 21. Mai 1977 von 9 bis 12 Uhr im Restaurant des Frankfurter Flughafens mit dem Rechtsanwalt Karl- Heinz Weidenhammer, der einer der vier letzten Vertrauensanwälte der RAF war. Das Treffen kam auf Wunsch Weidenhammers zustande. Von Kaul nach dem Grund der Kontaktaufnahme befragt, erzählte Weidenhammer, daß aufgrund „der Fülle der Menschenrechtsverletzungen“ bei den vier Stammheimer Angeklagten nach dem Tod von Ulrike Meinhof auf Wunsch von Baader, Ensslin und Raspe Beschwerde beim Europarat in Straßburg erhoben worden sei. Gudrun Ensslin habe dafür dem Frankfurter Rechtsanwalt und DKP-Mitglied Karl Pfannenschwarz Vollmacht erteilt.

Heute ist Pfannenschwarz übrigens im Politbüroprozeß Verteidiger von Horst Dohlus – und gleichzeitig Bürgermeister im brandenburgischen Dolgenbrodt, dem Dorf, dessen Bewohner Geld für den Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim sammelten.

Weidenhammer klagte nun darüber, daß in der Vorbereitung der Straßburger Verhandlung nichts geschehe, obwohl die Frist hierfür bald ablaufe. Pfannenschwarz würde einfach nichts tun und habe diesbezüglichen Mahnungen gegenüber nur Ausreden. In dieser Situation sei Andreas Baader auf die Idee gekommen, „die DDR im Hinblick auf die bevorstehende Belgrader KSZE-Konferenz auf die Stammheimer Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, weil mit Sicherheit damit zu rechnen sei, daß die BRD-Regierung oder die derzeitige parlamentarische Opposition in Belgrad als diesbezügliche Ankläger gegen die DDR auftreten würden und die DDR das Stammheimer Material als Gegenangriff verwenden könne. Zu diesem Zwecke sollte die DDR aus dem gesamten Prozeßmaterial Stammheim die Menschenrechtsverletzungen, und zwar Folgerungen und prozessuale Menschenrechtsverstöße, im einzelnen destillieren.“

Am Ende des Berichts an Lamberz schrieb Kaul: „Keine Stellung vermag ich dazu zu nehmen, ob es überhaupt, oder in welcher Phase ggf. politisch richtig und erforderlich sein wird, auf der Belgrader Konferenz die rechtsstaatliche Tarnung der BRD systematisch zu durchstoßen. Daß an die Vorbereitung dieser Möglichkeit zumindest gedacht werden müsse, habe ich bereits vor Wochen dem Genossen Paul Markowski (der ebenfalls 1978 mit Lamberz umgekommene Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der SED I.C.) und dem Genossen Hein Geggel schriftlich dargelegt.“

Die wesentliche politische Motivation der DDR-Führung zur Kontaktierung der RAF bestand also in ihrer möglichen Instrumentalisierung im Hinblick auf die Belgrader KSZE-Konferenz im September 1977, auf der hauptsächlich Fragen der Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten erörtert werden sollten. Der Hintergrund war die sich in allen osteuropäischen Staaten formierende Opposition, die auch in der DDR nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 ihren ersten Höhepunkt erreichte.

Dabei ging es darum, wie Erich Mielke in seinem Referat zur Eröffnung des Parteilehrgangs 1977 erläuterte, die „imperialistische Menschenrechtsdemagogie“ des Westens zu entlarven, die unter dem Vorwand der Menschenrechte und der Unterstützung der 1977 erstarkenden Dissidentenbewegung in den sozialistischen Staaten den „konterrevolutionären Umsturz“ betreibe. Insbesondere die CDU/CSU-Opposition prangerte im Bundestag die DDR an und legte 1977 ein „Weißbuch über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa“ vor.

Da nach Meinung der SED- Führung und ihres Geheimdienstes die Politische Untergrundtätigkeit (PUT) in der DDR von der Politisch-ideologischen Diversion (PID) des Westens gesteuert wurde, wie in einer umfangreichen Stasi-Forschungsarbeit analysiert wurde, lag es nahe, ebenfalls Einfluß auf die bundesdeutsche Opposition zu nehmen und die Bundesrepublik wegen Verletzung von Menschenrechten anzuklagen.

Nachdem Staatsratsvorsitzender Erich Honecker sein „Einverstanden E. H.“ erteilt hatte und am 21.6.77 Andreas Baader eine Vollmacht für ihn unterschrieben hatte (Faksimile rechts oben), übernahm Rechtsanwalt Kaul die – inoffizielle – Prozeßvertretung.

Das nächste Treffen zwischen Kaul und Weidenhammer fand am 28.8.1977 wieder in Frankfurt am Main – diesmal in einer „nicht besuchten Verkehrsgaststätte“ – statt, wo Kaul eine 57seitige Beschwerdebegründung in Französisch und Deutsch übergab. Die ihm von Weidemann übergebenen Prozeßunterlagen – zehn Leitzordner – lieferte Kaul, wie im Bericht vermerkt, an die „zuständige Dienststelle in der Normannenstraße“, also die Staatssicherheit, „zu Forschungszwecken“ ab.

Am 30.8.1977 erhielt Kaul von Weidenhammer einen Anruf, in dem dieser ihm mitteilte, daß über das Gesuch für Straßburg bei den Stammheimer Gefangenen „einhellige Freude und Zustimmung herrschte“ und sie ihm das Prädikat „ausgezeichnet“ verliehen hätten.

Obwohl in den Akten eine handschriftliche Notiz von Kaul an Lamberz vom 15.7.1977 vermerkt ist, aus der die „dringende und zwingende Bitte um ein Gespräch wegen Belgrad“ auf Ersuchen Weidenhammers hervorgeht, ist bekannt, daß die DDR auf der Belgrader Konferenz im September 1977 keine offizielle Kritik an der Bundesregierung wegen der Menschenrechtsverletzungen von RAF-Gefangenen vortrug. Auch die SPD-geführte Bundesregierung hielt sich mit Kritik an der DDR wegen der Unterdrückung ihrer inneren Opposition zurück.

Dennoch liefen die Kontakte auch nach dem Tod der RAF-Gefangenen und nach der KSZE- Konferenz in Belgrad weiter, auch wenn diese in den Akten nur bis Ende 1977 dokumentiert sind und bisher keine Akten darüber gefunden wurden, wer nach dem Tod von Lamberz diese Kontakte im Politbüro weiterführte. Bemerkenswert ist jedoch, daß weitere Hilfeersuchen Weidenhammers an Kaul nach Belgrad nicht mehr erhört wurden.

In einem Schreiben vom 14.11. 1977 informierte Kaul Lamberz darüber, daß Weidenhammer versucht habe, ihn „zu bestimmen“, sich um eine Prozeßvollmacht bei der in Ost-Berlin lebenden Mutter Raspes im Todesermittlungsverfahren zu bemühen. Wie aus einem handschriftlichen Vermerk Lamberz' ersichtlich, bat dieser den Genossen Kaul, „keinerlei Aktivitäten zu übernehmen“.

An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß Werner Lamberz zu dieser Zeit im Politbüro – ähnlich wie Hans-Jürgen Wischnewski im anderen Teil Deutschlands – nicht nur der wichtigste Vermittler in besonderen Nahostmissionen war, sondern auch sowohl für die westdeutsche als auch die hausgemachte, ostdeutsche Opposition als Ansprechpartner diente. Zu diesem Zeitpunkt, kurz nach der Biermann-Affäre, fand die Kritik der DDR-Opposition in den westlichen Medien einen breiten Widerhall. Um hier steuernd einzugreifen, bemühte sich Lamberz intensiv um prominente kritische DDR-Künstler und -Intellektuelle. Davon zeugen nicht nur die Protokolle im SED-Archiv, sondern auch die von Manfred Krug in seinem Buch „Abgehauen“ wiedergegebenen Gespräche mit Lamberz in seinem Haus. Danach vollzog sich Ende der siebziger Jahre ein wahrer Exodus von bekannten und weniger bekannten DDR-Oppositionellen gen Westen, dem gegenüber sich die 1980 erfolgte Aufnahme von 10 bundesdeutschen RAF-Terroristen aus dem Nahen Osten in den deutschen Osten vergleichsweise bescheiden ausnahm. Daß die Auswanderung „systemkritischer Elemente“ von Ost nach West durch Absprachen auf Regierungsebene mit Hilfe von Rechtsanwälten wie Wolfgang Vogel im Rahmen „humanitärer Erleichterungen“ geregelt wurde, ist inzwischen bekannt und bewiesen.

Ob es solche Absprachen auf „geheimen Kanälen“ auch in Sachen RAF-Aussteiger gab, wie schon in „Stern TV“ am 25. Juli 1990 von einem anonym bleibenden hohen Stasioffizier behauptet und von MfS-Oberst Harry Dahl im Februar diesen Jahres vor dem Berliner Landgericht ausgesagt wurde, konnte bisher durch entsprechende SED-Akten nicht nachgewiesen werden.

Für diesen Vorabdruck mußte der Artikel erheblich gekürzt werden.