Freitagabend an der Supermarktkasse. Ihr Vordermann bringt mit seiner neuen Kreditkarte das System zum Absturz. Nichts geht mehr. Das Gerät hält das neue Kärtchen mit Laufzeit bis 2000 für abgelaufen. Computerspezis nennen das Jahrtausendfe

Freitagabend an der Supermarktkasse. Ihr Vordermann bringt mit seiner neuen Kreditkarte das System zum Absturz. Nichts geht mehr. Das Gerät hält das neue Kärtchen mit Laufzeit bis 2000 für abgelaufen. Computerspezis nennen das Jahrtausendfehler. Eine Detroiter Supermarktkette will jetzt Schadenersatz.

Der Crash beginnt an der Kasse

Ein Supermarktbesitzer ist der erste Unternehmer, der Schadenersatz fordert, weil seine Computer das Jahr 2000 nicht richtig verstehen. 105mal stürzte die rechnergesteuerte Kasse des Detroiter Ladenbesitzers Mark Yarsike ab, weil Kunden mit Kreditkarten bezahlen wollten, die im Jahr 2000 ablaufen. Millionen anderer Computer in Bankautomaten, Flugzeugen, Krankenhäusern und Rechenzentren haben denselben Fehler. „Dies wird ein bahnbrechendes Verfahren“, urteilt Yarsikes Anwalt Dean Morehous.

Der Fall ist Vorbote eines Problems, das in voller Wucht erst zum Jahreswechsel ins 21. Jahrhundert auftreten wird, wenn viele Computer den Datumswechsel nicht mehr richtig verarbeiten können (siehe unten). Auch die Versicherungen sind alarmiert: „Es wird eine Kette von Ansprüchen auf einmal auf die Versicherer zukommen“, erwartet etwa Reinhard Müller von der Kölnischen Rückversicherung.

Vier bis fünf Stunden mußten die Kassierer in den drei Detroiter Supermärkten Produce Palace von Yarsike nach jedem Absturz warten, bis die Techniker des Herstellers Tec-America Corp. die Kassen wieder zum Funktionieren brachten. „Der Laden ist voll mit 100 Kunden und plötzlich kannst du keine Kreditkarten mehr annehmen“, schimpft Yarsike. Seine Kassiererinnen mußten Nachtschichten einlegen und die Einkäufe nachbuchen. 50.000 Dollar an extra Lohnkosten habe ihn der Fehler gekostet, sagt der Supermarktbesitzer, und Hunderttausende an Einnahmeausfällen.

Die verlangt er nun von Tec- America zurück. Auch auf Deutschland werden solche Prozesse zukommen, doch gerichtlich Schadenersatzzahlungen durchzusetzen ist hier schwierig (siehe Interview). Welchen Schaden dieser Fehler weltweit anrichtet, kann niemand abschätzen. Überall tüfteln Programmierer fleißig an Wegen, den Fehler zu vermeiden – allein das wird nach Schätzungen die Unternehmen weltweit über 500 Milliarden Mark kosten, das ist mehr als der aktuelle Bundeshaushalt. Die Tüftler sind nicht immer erfolgreich: Die neue Kasse der Firma Tec-America wurde im April 1995 an Produce Palace ausgeliefert, als Softwareentwickler das Problem schon längst kannten.

Auch in Deutschland konnten sich einige Kreditkarteninhaber Anfang des Jahres nur kurz über ihre neuen Kreditkarten freuen, die ausnahmsweise drei Jahre gültig waren – bis 2000. Viele Bankautomaten verschluckten die Karten einfach, sie hielten sie für ungültig. Eurocard etwa zog seine Karten zurück und begann mit aufwendigen Tests an Ladenkassen, Bankschaltern und Hotelrezeptionen. Diese Woche beruhigten Visa und Mastercard: Das Problem sei im Griff, ab Oktober dürften wieder Karten, die bis 2000 gültig sind, ausgegeben werden. Nur vereinzelt gebe es noch Probleme. Dabei haben die Kartenbetreiber das gar nicht in der Hand, wie das Detroiter Beispiel zeigt. Dort funktionierte die automatische Überprüfung der Kreditkarte per Telefonleitung durch die Kartenfirma – doch das Kassenprogramm kam damit nicht klar. In Deutschland aktualisieren Kassenfabrikanten wie Siemens-Nixdorf daher generalstabsmäßig geplant die Programme bei ihren Kunden, um solche Abstürze zu vermeiden.

In vielen Großrechnern in der Wirtschaft läuft Software, die kaum noch einer überblickt. Größere Unternehmen arbeiten mit Zehntausenden von Programmen. „Am Anfang steht eine EDV-Inventur“, berichtet der EDV-Chef Horst Müller von der R+V-Versicherung. „Da sammelt sich einiges an, was so im Untergrund mitläuft, was man gar nicht mehr braucht.“ Was aber Probleme machen kann.

Auch wenn EDV-Chef Müller derzeit mit großem Aufwand sein Rechenzentrum umkrempelt, zum Neujahr 2000 hält er lieber noch eine „Feuerwehrtruppe aus ausgesuchten Experten“ in Bereitschaft – für Notfälle. Nicht alle Firmen sind so gründlich. Einer Umfrage der Kölnischen Rückversicherung zufolge haben ein Drittel aller deutschen Unternehmen noch gar nichts getan. „Die deutsche Wirtschaft unterschätzt das Problem“, sagt Frank Sempert, Sprecher der Initiative 2000, eines Zusammenschlusses großer Computerfirmen zum „Jahrtausendfehler“. Er schätzt, daß die Hälfte aller Firmen ihre Software nicht mehr umstellen kann. Das könnte den Unternehmen das Genick brechen, schreibt die Initiative. Schon jetzt berücksichtigen Börsenprofis die Vorbereitung der Firmen auf den „Jahrtausendfehler“ bei ihren Kaufempfehlungen. Matthias Urbach