Richter Adams letzter Fall

■ Wenn die Untadeligen die Gashähne bedienen: Ivan Klimas Roman „Richter in eigener Sache“ ist ein literarisches Zeitdokument über den Realsozialismus

„Glücklicherweise lebe ich in einem Jahrhundert, in einem Land und unter Verhältnissen, die mit Erschütterungen nicht geizen.“ Das Glück des tschechischen Schriftstellers Ivan Klima bestand darin, daß er ein paar Jahre seiner Jugend im KZ Terezin (Theresienstadt) verbrachte, ohne zum Transport nach Auschwitz selektiert zu werden. Sein Glück bestand in der Befreiung durch die Rote Armee, der bald die Machtübernahme durch die Kommunisten folgte — für Klima einst die Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft, grausam enttäuscht durch das politische Mordstück der Prager Schauprozesse.

Sein Glück bestand in den Versuchen der Gesellschaft, sich ihrer Selbstverantwortung zu besinnen und sich von innen her zu reformieren — bis die sowjetischen Panzer den Prager Frühling niederwalzten und die Kreml-hörige Führung dem kreativeren Teil der Intelligenz unter der Parole „Schriftsteller lernen proletarische Berufe kennen“ eine besondere Berufsfortbildung zukommen ließ. Klima wurde Krankenpfleger, Straßenkehrer und Dissident. Ein reicher Erfahrungsschatz, eine Fülle Material.

Damit ist auch der historisch- politische Rahmen seines Romans „Richter in eigener Sache“ umrissen. Klima baut ihn auf zwei Ebenen auf, indem er den aktuellen Handlungsstrang mit Rückblenden in Kindheit, Jugend und Karriere verknüpft. Hauptperson ist der Richter Adam Kindl, der wegen seines Engagements für die Reformbewegung auf der Abschußliste steht. Er verstrickt sich in die Intrigen seiner Vorgesetzten. Als Gegner der Todesstrafe soll er einen Mörder zum Tode verurteilen. Er verliert sich in den Abgründen seiner beruflichen und privaten Beziehungen und geht immer stärker mit sich selbst ins Gericht. Daraus baut Klima eine spannende Geschichte, die die Entwicklungen der realsozialistischen Gesellschaft abbildet.

Durch die fortlaufenden biographischen Einblendungen (mahnend betitelt mit „Bevor wir aus dem Fluß Lethe trinken“) erhält die Person des Richters ihre Typik als Figur der realsozialistischen Intelligenzija. Ein vom Schicksal schwer Gezeichneter, der die Jugend im KZ verbrachte, stürzt sich mit aller Kraft und Naivität in die politisch-ideologische Aufgabe der sozialistischen Verbesserung der Gesellschaft. In seiner Schul- und Studentenzeit drangsaliert er seine Mitschüler bis hin zu selbstherrlichen Beurteilungen für die Kaderbögen der Partei. Eine gehobene Parteikarriere wird allerdings durch ein paar widrige Umstände verhindert, etwa dadurch, daß der Vater, ebenfalls überzeugter Kommunist, wegen angeblicher Verstöße gegen die sozialistische Ordnung verhaftet wird. Erst allmählich dämmert dem Sohn, daß „die Idee“ von den Parteimächtigen zum Herrschaftsinstrument mißbraucht und die Gesellschaft grundlegender Rechte beraubt wird. Da schließt er sich der Reformbewegung an, die an einen „dritten Weg“ zwischen den Blöcken glaubt.

Was Klima über die biographische Schilderung vermittelt, ist das Bild eines zwiespältigen Menschen, eines scheinbar Suchenden, der sich vordergründig oft engagiert, sich aber in Wirklichkeit in einem Vakuum bewegt. Ob Aufbau des Sozialismus oder Reformbewegung, er ist kein kreativer Mensch, sondern einer, der stets fremde Ideen für seine eigenen hält und im Grunde bloß dem Zeitgeist folgt. So kommt es, daß er nach dem sowjetischen Einmarsch seinen Richterposten behält, als die Reformer längst aus dem Staatsapparat entfernt worden sind. Während er seinen letzten Fall behandelt, gelangt er nach und nach zur Erkenntnis, daß er selbst „der Fall“ ist, vor dem er immer geflüchtet ist: „Ich hatte andere verurteilt, um nicht mich selbst verurteilen zu müssen.“ Wohl unterscheidet er sich vom Straftäter, der seiner Zimmerwirtin das Gas aufgedreht hat. Doch in diesem sozialen Vakuum gelangen auch die „Untadeligen“ an die Hähne, aus denen das Gas in Küchen strömen kann; oder in Kammern; oder in die Triebwerke todbringender Raketen. Die Figur des entscheidungsschwachen, ewig Ausflüchte ersinnenden Zauderers dient Klima auch dazu, die philosophischen Grundfragen aufzuwerfen, die aus dem Widerspruch zwischen Individuum und totalitärer Gesellschaft entspringen. Es sind jene Fragen, um die sich die Dissidenz scharte, die sich weniger als politische denn als moralische Kraft der Staatsmacht entgegenstellte.

Es gibt viele Romane, die gleich wieder vergessen sind. Geschichte, Politik, Moral, verbunden durch eine psychologisch fein geschliffene Erzählung, ergeben in Ivan Klimas Roman ein literarisches Zeitdokument, hinter dessen ironischer Distanz die Leidenschaft spürbar wird, wider das Vergessen anzuschreiben. Balduin Winter

Ivan Klima: „Richter in eigener Sache“. Roman, aus dem Tschechischen von Alexandra Baumrucker. Paul Zsolnay Verlag, München/Wien 1997, 576 S., 49,80 DM