Eine ziemlich deutsche Rebellion

Die Rechtschreibreform wühlt die Volksseele auf. Darin äußert sich ein paradoxes Verhältnis zum Staat. Man klagt gegen ihn, zugleich wird er aber als zentrale Instanz bestätigt. Es herrscht eine phobische Angst vor dem Umlernen  ■ Von Reinhard Kahl

An meiner Kaufhauskasse wurde ich neulich Zeuge einer erregten Diskussion über richtig und falsch: „Ja, wie schreibt man das nun?“ – „Bald weiß ich überhaupt nicht mehr, wonach man sich richten soll!“ – „Unmöglich, wie die mit uns umspringen!“ Es geht schon wieder um die unsägliche Rechtschreibreform, das heißt, wenn man genau hinhört, klingt das Thema hinter dem Thema durch, nämlich „wie die mit uns umspringen“ und „wonach man sich richten soll“.

Die Rechtschreibreform rührt an traumatisierte Schichten der deutschen Volksseele, die mit dem Streit um „sz“ oder Doppel-„s“ nicht aufzuklären sind und sich auch nicht linguistisch beruhigen lassen. Überhaupt fällt ja auf, daß in der sogenannten Rechtschreibdebatte die Orthographie selbst kaum Thema ist. Das muß auch so sein, denn je unbestimmter das vermeintliche Thema bleibt, desto besser eignet es sich zur Projektion des schlummernden, unerhörten Generalmißtrauens gegen „die da oben“, das auf paradoxe Weise mit dem Wunsch nach eindeutiger Ordnung verwickelt ist und nach dem Diktat zweifelsfreier Richtig- Falsch-Unterscheidung verlangt.

100 Jahre sind es her, da erfand Daniel Gottlob Schreber in Leipzig nicht nur die Ordnung des Schrebergartens, sondern auch Geradehalter für Kinder, Anti- Onaniergürtel und anderes pädagogisch-orthopädisches Werkzeug. In Fibeln wurde richtiges Schreiben mit exerzierenden Soldaten illustriert. Die Schrift hatte so zackig zu sein wie der Drill auf dem Kasernenhof. Und Konrad Duden verfaßte sein erstes Normwerk nicht zuletzt, weil Drucker und Lehrer auf Eindeutigkeit pochten. Der erste Duden hatte noch 184 Seiten, inzwischen zählt er ein Vielfaches. Das Regelwerk wurde immer dichter. Rechtschreibung in Deutschland blieb nicht Dudens plausibles „Schreib, wie du sprichst“, sondern wurde Initiationsritual in jene industrielle Moderne, die Max Weber einen „ehernen Käfig“ nannte. Die darin Eingesperrten wurden allerdings mit dem Versprechen von Sicherheit entschädigt, auf das viele nun beharren.

Nun wird dieser Käfig gesprengt, überall. Auch die starre Autorität der Rechtschreibung, die vor Dudens Zeit nicht regellos, aber vielfältig war, verliert im Ausgang der industriellen Moderne ihren quasi orthopädischen Zwangscharakter. Jetzt dürfen, ja müssen die, die mit Schmerzen an Einlagen und Geradehalter gewöhnt wurden, ihre orthopädischen Schuhe aufschnüren. Auch diese Entbindungen schmerzen und erinnern an die ältere Gewalt. Endlich kann abgerechnet werden „mit denen da oben, die mit uns machen wollen, was sie wollen“.

Auf der Bühne des Rechtschreibtheaters wird ein Endspiel jenes Denkens aufgeführt, das sich in engen Rastern von „richtig und falsch“, von „entweder oder“ eingerichtet hat. Dabei erhebt sich aus dem Spektakel souverän die List der Geschichte. Denn Sieger wird etwas Drittes sein. Der tatsächliche Effekt im Streit ist doch, daß die Aura der heiligen Rechtschreibung den Rest bekommt, und zwar ausgerechnet von denen, die von einer ihrer Varianten so hundertprozentig überzeugt sind. Egal auf welcher Seite sie kämpfen, alter oder neuer Rechtschreibung, sie haben etwas vom Ringen eines Don Quijote. Die Ritter der Rechtschreibung kämpfen immer noch für den Monotheismus der einen Orthographie, die keine andere neben sich duldet, und liefern selbst doch ständig den Beweis dafür, daß es Alternativen gibt, viele Alternativen sogar. Jede hat Nachteile, und für alle gibt es auch gute Argumente. In der modernen Theoriedebatte nennt man das Kontingenz: Es könnte auch anders sein.

Der Protest geht im Rechtschreibspektakel in zwei Richtungen. Die einen wollen das einmal Konditionierte, die alte Rechtschreibung nicht mehr antasten, die anderen wollen die Anmaßungen des Staates zurückweisen und dabei endlich mal siegen. Das ergibt merkwürdige Koalitionen. Sie erinnern zuweilen an die Initiativen gegen die Volkszählung. Auch damals stand der Zugriff des Staates am Pranger. Auch damals wurde auf einem Nebenschauplatz gekämpft, als ginge es ums Ganze. Auch damals durchkreuzten Gerichte die Pläne anonymer Kommissionen. Dem Staat wurde Ungehorsam angedroht, er wurde verklagt, und zugleich wurde doch dauernd an ihn appelliert, das Richtige zu tun. Der Staat wurde bekämpft, verhöhnt und doch als zentrale Instanz bestätigt. Eine deutsche Rebellion.

Mit seiner Unterschriftenaktion gegen die Rechtschreibreform ist dem Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk erstmals in diesem Land gelungen, Dichter und Volk zu vereinigen. Wer hätte das gedacht! Schriftsteller warfen sich im deutschen Herbst 1996 heroisch hinter einen abgefahrenen Zug. Merkwürdig allerdings, daß Autoren, die sich jetzt zu ihrer persönlichen Orthographie bekennen, an den Staat appellieren, er möge regeln, statt ans Volk, es möge eigensinnig schreiben.

Der Anführer der Rechtschreib-Rebellen, CSU-Mitglied Friedrich Denk, der immerzu betont, er habe noch nie dem Staat zuwidergehandelt oder auch nur widersprochen, ist der Prototyp der Rechthaber und Rechtschreiber. Er behauptet doch tatsächlich, wenn die Anrede Du und Sie klein geschrieben wird, ginge ein Stück Höflichkeit flöten, und deshalb werde – so folgerten zuletzt Kläger vor dem Verwaltungsgericht in Dresden – das Erziehungsrecht der Eltern berührt. Mit Erfolg reklamierten sie mit diesen Argumenten das Grundrecht auf Bildung, und die Richter sahen sogar Persönlichkeitsrechte tangiert.

Dem Kind, so die Richter, sei nicht zuzumuten, jetzt Regeln zu lernen und vielleicht bald schon wieder umzulernen. Das ist die deutsche Phobie: die Angst vorm Umlernen, die Angst davor, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, das Verlangen nach Regeln, Prothesen und Geradehaltern. Aber das Rechtschreibtheater ist nicht nur eine Posse, es ist auch ein Lehrstück. Es zeigt, wie die erschöpften Konstruktionen eindeutiger Identität von ambivalenten Feldern abgelöst werden. Analog zu Ulrich Becks Diagnose: „Die Demokratie ist das Resultat der Versuche, sie aufzuhalten“, wird auch das Rechtschreibgezänk unsere Spielräume erweitern. Für die Sprache gilt ja das gleiche wie fürs Leben: Sie folgt nicht nur der einen großen Regel. Und weil alles miteinander nicht aufgeht, geht es weiter.

Den orthodoxen Rechthabern geht der Sinn für diesen vitalen Widerspruch und für die aus ihm entspringende Poesie ebenso ab wie den reformierten Ingenieuren der Rechtschreibung.