■ Querspalte: Der Pole ist undankbar
Jede Nation muß mit ihren Vorurteilen leben. Nicht nur mit ihren eigenen über die anderen, sondern auch mit den Meinungen, Verunglimpfungen und Attributen der Nachbarn über sich selbst. Italiener sind notorische Schwätzer, Rumänen klauen alle, Spanierinnen lieben am leidenschaftlichsten, wohingegen bekannt ist, daß Amerikaner unsinnlich sind.
Der Pole an sich ist anspruchslos. Durch jahrzehntelange sozialistische Mangelwirtschaft ist er an Entbehrungen gewöhnt. Litt er doch in den vergangenen Jahrzehnten – wenn nicht Jahrhunderten – an Hunger, Kälte, frischer Luft und sauberer Wäsche. Seine Behausungen sind in erbarmungswürdigem Zustand, die Straßen als solche nicht zu bezeichnen. Daß dem so ist, wissen in Deutschland nun alle. Schließlich wurde der Deutsche in den vergangenen Wochen mit Fotos und Fernsehbildern über Polen und die Jahrhundertflut informiert. Saßen da nicht Menschen im Elend? Klatschnaß hockten sie im Wald, hungrig, schlammig, schwielig, ihrer Habe und ihres Guts durch die Fluten beraubt. Solche Szenen müssen den Christen im Deutschen anrühren.
Selbst im fernen Strittmatt-Görwihl in Baden-Württemberg packten Menschen Hilfsgüter in Container und schickten sie dem bedürftigen Polen. Die Lager in dem kleinen Ort nahe der Schweizer Grenze waren voll, und das seit Jahrzehnten. Was störte es da, daß die nach Polen verschickten Lebensmittel verdorben waren? Daß das Verfallsdatum des Verbandsmaterials 1977 war, die Schuhe alt und die Decken verfilzt sind?
Elf Lastwagen bepackten die fleißigen Alemannen. Undankbar zeigt sich der Pole. Er wollte die Hilfslieferung nicht. Dann schickt das Zeug doch weiter in die Ukraine! telefonierten die Strittmatt- Görwihler. Nur zurück sollen die elf Lastwagen auf gar keinen Fall. Was das allein an Entsorgung kosten würde! Und wer weiß schon, ob das Verbandsmaterial nicht mittlerweile als Sondermüll gilt. Der Baden-Württemberger an sich ist eben kostenbewußt und geschäftstüchtig. Ulrike Fokken
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