Lieber tot als langsam verrotten

Mit einer Amnestie will Rußlands Präsident Jelzin die Knäste entlasten. Dort sind die Zustände unerträglich. Häftlinge sterben an Krankheiten oder werden totgeprügelt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Eine Amnestie ist nicht nur ein humanitärer Akt seitens des Staates“, schrieb Präsident Jelzin in einer Empfehlung ans Parlament, doch eine landesweite Amnestie zu erlassen. Der großangelegte Straferlaß werde darüber hinaus die extrem angespannte Lage in russischen Gefängnissen lindern helfen. Fast eine halbe Million Häftlinge sollen in den Genuß vorzeitiger Freiheit gelangen, etwas weniger als die Hälfte aller einsitzenden russischen Strafgefangenen. Schwerverbrecher sind von dem Gnadenakt ausgenommen.

Die Situation in Rußlands Knästen ist nach wie vor katastrophal. In den sledstwennije isolatori – den Untersuchungsgefängnissen – kann von Isolation keine Rede sein. Im Moskauer Gefängnis Butirka treten sich die Häftlinge auf die Füße. In einer Zelle hausen 90 bis 100 Insassen, für jeden dritten steht ein Bett zu Verfügung, geschlafen wird in Schichten. Was früher für Straftäter einen Alptraum darstellte, nämlich „zu sitzen“, wird nun zum sehnlichsten Wunsch. Auch noch in der Haft werden Steherqualitäten verlangt. Das russische Gesetz garantiert dem Straffälligen vier Quadratmeter Bewegungsraum, die Wirklichkeit läßt ihm nicht mal einen. Amnesty international berichtete im April aus dem Moskauer Gefängnis Matrosskaja Tischina, auf 70 Quadratmetern, ausgelegt für 35 Leute, sogar 140 Gefangene vorgefunden zu haben.

Krankheiten breiten sich fast epidemisch aus. Erkrankungen an Tuberkulose sind in den Untersuchungsgefängnissen siebzehnmal so häufig wie in der unbescholtenen Bevölkerung. Selbst vor Gesundheit strotzende Schränke wie der rußlandweit bekannte Berufsverbrecher Pawel Sacharow wurden nach wenigen Monaten Knast vom Herzinfarkt dahingerafft. Chronischer Sauerstoffmangel und Hitzschläge sind häufige Todesursachen. Die meisten Gefängnisse Rußlands stammen aus dem letzten Jahrhundert und entsprechen nicht mal mehr den hygienischen Anforderungen der Vergangenheit. Die Gefangenen verfaulen bei lebendigem Leib, nach einigen Wochen fallen die Zähne aus, denn vitaminhaltige Nahrung wird nicht gereicht. In der Luft hängt ein unbeschreiblicher Fäulnisgestank.

Die unsäglichen Verhältnisse erklären, warum Todeskandidaten, deren Urteile seit Februar dieses Jahres nicht mehr vollstreckt werden, die Behörden dennoch bitten, den Scharfrichter seines Amtes walten zu lassen. Lieber tot als verrotten.

Medikamente stehen den Anstaltsärzten oft auch nicht zur Verfügung. Aus Kaliningrad berichtet ein Arzt, man ziehe schmerzende Zähne öfter ohne Betäubung. Selbst einfache Schmerztabletten sind Mangelware. Für 1.800 Insassen sieht der Apothekenetat im Monat 600 Mark vor. Kaliningrad ist indes noch ein besonderer Fall. Jeder achte Häftling ist mit Aids infiziert. Den Betroffenen wird überhaupt keine Hilfe zuteil. Das staatliche Gesundheitswesen steht auf dem Standpunkt, für Straftäter hinter Gittern nicht verantwortlich zu sein, und verweist auf das Innenministerium.

Das behandelt alle Kranken nach dem Grundsatz „Vor Äskulap sind alle gleich“ – und gibt weder den einen noch den anderen. Dem Personal geht es kaum besser. Es fehlt am Elementarsten, selbst im Umgang mit HIV-Infizierten können Ärzte nicht die simpelsten Sicherheitsvorkehrungen treffen. Nicht einmal Spezialhandschuhe gibt es. Einzige Schutzhaut: Anzüge aus der Zeit des Kalten Krieges gegen den Einsatz chemischer Kampfstoffe.

Die Überfüllung der Gefängnisse hängt auch damit zusammen, daß das russische Strafrecht zunächst nicht nach schweren und Bagatelldelikten unterscheidet. Alle Delinquenten werden in U-Haft gesteckt, manchmal über Jahre. Freilassung auf Kaution kennt die Praxis kaum. In ihrem Jahresbericht stellte die Organisation „Internationale Amnestie“ (IA) fest, sogar Jugendliche, denen der Diebstahl von 23 Laiben Brot zur Last gelegt wird, seien den mörderischen Bedingungen ausgesetzt. In einem Fall saß ein Sechzehnjähriger zweieinhalb Jahre ein, weil er in einer Zoohandlung drei Hamster gestohlen hatte.

Zur menschenunwürdigen Unterbringung kommt laut IA noch ein äußerst alarmierender Fakt: Das Wachpersonal foltert und mißhandelt Gefangene nicht selten mit tödlichem Ausgang.

Die letzten Jahre ließ sich ein auffälliges Phänomen beobachten. Im Unterschied zu anderen Industrieländern, wo sich die Kriminalität vornehmlich in den Satellitenvororten der großen Städte konzentriert, stammen in Rußland die Straffälligen vom Dorf, das sozial und intellektuell zunehmend der Degradation anheimfällt.

Eine Amnestie in Rußland ist mehr als ein humanitärer Akt. Sie bewahrt Zigtausende Jugendliche davor, die Laufbahn eines Berufsverbrechers einzuschlagen ...