Juristische Konstruktionen

Die Politbüromitglieder wurden verurteilt, weil sie zwei Parteidokumente absegneten. Der Bundestag hat der jetzt verwendeten Rechtsformel nie zugestimmt  ■ Von Uwe Wesel

Hunderte von Toten und Verletzten, das sind die Opfer jener unseligen hermetischen Absperrung zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West seit 1961. Wie viele es tatsächlich waren, werden wir nie genau erfahren. Viele wurden heimlich beiseite geschafft, denn jeder „Vorfall“ war peinlich für das internationale Ansehen dieses – sogenannten – sozialistischen Staates DDR.

Seit 1991 wird, meist vor dem Landgericht Berlin, gegen die Verantwortlichen verhandelt. In 50 Prozessen sind Urteile ergangen gegen etwa einhundert Grenzsoldaten, in der Regel Bewährungsstrafen zwischen ein und zwei Jahren sowie einige Freisprüche.

Doch nicht nur Soldaten standen vor Gericht. Im Honecker- Prozeß 1992/93 waren sechs Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates angeklagt, von denen drei wegen Alter und Krankheit ausschieden und drei zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und siebeneinhalb Jahren verurteilt wurden. Gestern nun fiel das Urteil im Politbüroprozeß. Wie im Honecker- Prozeß waren es ursprünglich sechs Angeklagte. Wie dort sind drei wegen Alters und Krankheit ausgeschieden und drei geblieben: Egon Krenz, Günther Kleiber und Günter Schabowski.

Die Parallele zum Honecker- Prozeß geht aber noch weiter. Die Anklage dort betraf 68 Fälle, hier waren es 66. Dort blieben zehn Fälle übrig, hier waren es vier. Und hier wie dort schied der Vorsitzende Richter Bräutigam wegen Befangenheit aus. Somit zeigt die Mechanik des Rechtsstaates schon Schwächen im technischen Funktionieren. Aber auch die innere Normalität von Recht und Gerechtigkeit ist ziemlich gestört.

Auf der einen Seite ist festzuhalten, daß es völlig unsinnig wäre, diese drei Angeklagten, die zum mächtigsten politischen Zirkel der DDR gehörten, nicht zu verurteilen, nachdem die Mauerschützen und die Generäle der Grenztruppen ihre Strafe erhielten. Auf der anderen Seite zeigten sich gerade in diesem Prozeß allgemeine Bedenken, die erst hier zur Sprache gekommen sind und auch gegen alle anderen Verurteilungen sprechen. Außerdem beruht gerade im Politbüroprozeß die Verurteilung auf juristischen Konstruktionen, die man nur als abenteuerlich bezeichnen kann.

Wir haben doch Honecker gestürzt

Zunächst zu den juristischen Konstruktionen. Die Anklage erging wegen „Unterlassung“. Der Vorwurf lautete also, sie hätten die Opfer auf dem Gewissen, weil sie im Politbüro nicht dafür gesorgt haben, daß die Schießereien aufhören. Aktives Tun, so meinte die Staatsanwaltschaft, könne man ihnen nicht vorwerfen. Denn im Politbüro hatte man seit Anfang der siebziger Jahre – an sich – nichts mehr dazu beschlossen. Krenz war seit 1983 Mitglied, Kleiber und Schabowski seit 1984.

Doch das Landgericht Berlin hatte Schwierigkeiten mit diesem Vorwurf des Unterlassens. Zumindest Krenz und Schabowski konnten darauf erwidern, daß sie im ersten Moment, in dem sie etwas tun konnten, gehandelt haben: Wir haben Honecker gestürzt und dann die Grenze geöffnet.

Also erging der Eröffnungsbeschluß wegen „aktiven Tuns“. Mit der ersten abenteuerlichen Konstruktion: Die Angeklagten hätten alles gewußt und zugesehen. Der juristische Präzedenzfall ist z.B. ein Gangsterboß, der am Tatort ist, alles sieht, nichts tun, aber jederzeit eingreifen könnte. So jemand wird wegen aktiven Tuns verurteilt. Man sieht, dieser Vorwurf paßt auf das Politbüro genauso schlecht wie der Vorwurf des Unterlassens.

Deshalb ist man während des Prozesses zu einer anderen Kontruktion übergegangen, zuletzt vorgetragen im Plädoyer der Staatsanwaltschaft, und so hat das Gericht sein Urteil auch begründet. Man stützt sich auf zwei Beschlüsse des Politbüros, die die Angeklagten mitgetragen haben. Einer stammt aus dem Jahre 1985, der andere kam 1986 zustande. In diesen Jahren waren Krenz, Schabowski und Kleiber tatsächlich Mitglieder des Politbüros. Doch um welche Beschlüsse handelt es sich? Wenn es nicht um so ernste Dinge ginge wie die Toten an der Grenze, man könnte als Jurist nur lachen.

Parteichinesisch auf 25 Seiten

Am 11. Juni 1985 nahm das Politbüro einen Bericht zustimmend zur Kenntnis, der von der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee „über die politisch-ideologische Arbeit zur Verwirklichung des vom X. Parteitag der SED übertragenen Klassenauftrages“ geschrieben worden war. Allgemeines Parteichinesisch auf 25 Seiten, und zwei nichtssagende Sätze über die Grenztruppen, die hohe Qualität ihrer Arbeit, und daß sie auch in Zukunft ihre Kräfte nicht schonen werden, um den Klassenauftrag zu erfüllen.

Der zweite Beschluß ist noch grotesker als Grundlage einer Verurteilung wegen aktiven Totschlags. Am 11. März 1986 hat das Politbüro wieder ein Papier zustimmend zur Kenntnis genommen, diesmal 164 Seiten. Es handelt sich um den Entwurf einer Rede Honeckers zum 11. Parteitag der SED, in dem wieder die Grenztruppen erwähnt werden, die ihren Klassenauftrag erfüllen und die Unverletzlichkeit der Grenzen der DDR gewährleisten.

Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Zwar wurden diese Beschlüsse des Politbüros in den folgenden Jahresbefehlen des Verteidigungsministeriums an die Grenztruppen zitiert, aber gebetsmühlenartig gemeinsam mit zahllosen anderen Beschlüssen von Partei- und Staatsorganen. Eine juristische Grundlage für eine Verurteilung wegen aktiven Tuns ist das genausowenig wie das Glockenläuten der Kirchen während der Ketzerverfolgungen im Mittelalter.

Das allgemeine Problem, das während des Prozesses von der Verteidigung zum ersten Mal überhaupt angesprochen wurde, ist letztlich genauso ernst. Alle bisher gefällten Urteile gegen die Mauerschützen und ihre Vorgesetzten beruhen auf der sogenannten Radbruchschen Formel. (Diese besagt: Wenn der Widerspruch des geschriebenen Gesetzes zur Gerechtigkeit unerträglich groß sei, wie etwa bei der Verletzung von Menschenrechten, habe das Gesetz der Gerechtigkeit zu weichen. Anmerk. der Red.) Mit dieser Formel umgehen die bundesdeutschen Richter das Recht der DDR, nach dem sie eigentlich – wie im Einigungsvertrag vereinbart – urteilen müßten.

Die Radbruchsche Formel wird vor allem auf Paragraph 27 des Grenzgesetzes der DDR von 1982 angewandt, den Paragraphen also, der die Schüsse erlaubte. Diesen erkennt die bundesdeutsche Justiz nicht an. Also kann sie Anklage erheben, und dies hat das Bundesverfassungsgericht auch bestätigt.

Was freilich auch das Verfassungsgericht übersah, ist ein Gesetz des Bundestages, der 1952 der Europäischen Menschenrechtskonvention zustimmte – jedoch mit ausdrücklichem Vorbehalt der überwältigenden Mehrheit aller Mitglieder des Parlaments bei Enthaltung der Kommunisten.

In der Menschenrechtskonvention war nämlich die Radbruchsche Formel enthalten. Gegen sie sprach sich der Bundestag aus, weil man die Urteile der Nürnberger Kriegsverbrecherprozeße nicht anerkennen wollte. Man brauchte Generäle für die geplante Bundeswehr. Und diese Generäle wollten die Rehabilitierung ihrer alten Kameraden. Dieses Verbot der Radbruchschen Formel hat der Bundestag bis heute nicht aufgehoben. Er hätte es längst tun können.

Was lehrt uns dies? Auch mit dem Urteil von heute geht der Rechtsstaat über ein sehr dünnes Eis. Früher haben wir mit abenteuerlichen juristischen Konstruktionen die Nazis geschont. Jetzt gehen wir mit abenteuerlichen juristischen Konstruktionen gegen sogenannte Sozialisten vor.

Uwe Wesel ist Professor für Jura an der FU Berlin