■ Das Urteil ist gesprochen: Das Politbüro trägt Mitverantwortung für die Toten an der Mauer. Ex-Staats- und Parteichef Egon Krenz kümmert dies freilich wenig. Ich beuge mich nicht, sagt er und kündigt Revision an.
: Egon lächelt weiter

Das Urteil ist gesprochen:

Das Politbüro trägt Mitverantwortung für die Toten an der Mauer. Ex-Staats- und Parteichef Egon Krenz kümmert dies freilich wenig. Ich beuge mich nicht,

sagt er und kündigt Revision an.

Egon lächelt weiter

Kurz vor elf Uhr ist Egon Krenz noch ein freier Mann. Fast hundert Meter legt er zum Eingang des Moabiter Kriminalgerichts zurück. So, als wolle er seinen letzten Gang noch einmal richtig auskosten. Doch der Auftritt mißrät zur Farce. Kameramänner mauern ihn ein, schieben ihn vorwärts, fast stolpert der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR über ein Kabel. Krenz' Sohn gibt seine Tasche an einen Bekannten ab, versucht, seinen Vater abzuschirmen. Die Szenerie wirkt, als sei sie für einen Hollywoodfilm arrangiert worden. „Mörder, Mörder“ rufen einige Männer, aber auch die Gegenseite, alte Genossinnen und Genossen des Solidaritätskomitees, weiß, was von ihr in solch einem historischen Augenblick abverlangt wird: „Bravo“ und „Egon, wir sind mit dir“, schallt es zurück.

Die Rollen, sie sind an diesem Tag zum letzten Mal besetzt. Krenz gebührt die größte Aufmerksamkeit, Günther Kleiber huscht nahezu unbemerkt ins Gerichtsgebäude. Selbst Günter Schabowski wäre fast ungesehen hineingelangt. Fast. Wäre da nicht jener alte Genosse gewesen, der ihn vor der Tür anschreit: „Warum bist du umgefallen, warum bist du nur umgefallen?“ Schabowski, der wie kein anderer der Angeklagten seine moralische und politische Verantwortung für die Toten und Verletzten an der Mauer eingeräumt hat, der schweigend in den 115 Verhandlungstagen in den Gerichtspausen die Flure abgelaufen ist, platzt dieses eine Mal der Kragen. Plötzlich erinnert er einen Moment lang an den Schabowski des Herbstes 1989, der wortgewaltig mit Demonstranten auf Ostberlins Straßen debattierte. Wütend tippt er sein Gegenüber an: „Auch du solltest dir, aus Anlaß dieses Prozesses, einige Fragen stellen.“

Es ist ein heißer Tag in Berlin, im Saal 500 herrscht drückende Schwüle. Die Plätze sind restlos besetzt, über 90 Journalisten aus dem In- und Ausland sind akkreditiert. Über achtzehn Monate ist in dem Saal, der einst für die Terroristenprozesse der 70er Jahre ausgebaut wurde, über die Mitglieder des Politbüros verhandelt worden. Drei sind übrig geblieben, nachdem Kurt Hager, Horst Dohlus, Erich Mückenberger aus Alters- und Gesundheitsgründen ausschieden.

Es ist an diesem Tag auch der letzte Auftritt der 27. Großen Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Josef Hoch, der für den wegen Befangenheit abgelösten Richter Bräutigam einspringen mußte. Ein Zufall also stellte ihn plötzlich ins Rampenlicht. Hoch ist ein junger Mann, was ihm von einigen Angeklagten immer mal wieder vorgehalten wurde. Doch er hat seine Aufgabe mit Umsicht gelöst. Ruhig verliest er das Urteil: Sechseinhalb Jahre für Krenz wegen vierfachen Totschlags, drei Jahre für Kleiber und Schabwoski wegen dreifachen Totschlags. Ein Murmeln erhebt sich auf der Zuschauerbank, denn das Gericht ist deutlich unter den Forderungen der Anklage geblieben.

In seiner Begründung spricht Hoch ausführlich von der Schwierigkeit, mit juristischen Mitteln politische und historische Geschehnisse aufzuklären. Doch Geschichte, so stellt er zugleich fest, lasse sich „im Nachhinein nicht aus der Welt schaffen“. Kein Angeklagter habe bestritten, was in der Verhandlung an Tatsachen, an Anordnungen und Befehlen vorgelegt wurde, die das Grenzregime der DDR betrafen.

Hoch gesteht zu, daß die Angeklagten nicht im losgelösten Raum, sondern innerhalb politischer und historischer Zusammenhänge handelten. Auch sei die DDR nicht unumschränkt souverän gewesen, hätte sich in allen relevanten Fragen der Grenze mit der Sowjetunion absprechen müssen. Und doch sei der Bau der Mauer nicht allein ein Werk des Warschauer Vertrages gewesen: „Die strenge Sicherung der Grenze lag stets im Interesse der Führung der DDR“.

Der ideologische Schießbefehl

Diese Führung war nach Meinung des Gerichts das Politbüro. Das Gremium sei die „faktische Organisationsspitze des Staates“ gewesen, die „faktisch“ die Befehle an der Grenze „mitzuverantworten“ habe. Das Politbüro, so Hoch, habe sich eine „Kompetenzkompetenz“ zugeschrieben. Die Beschlüsse des Politbüros vom 11. Juni 1985 und vom 11. März 1986, die der Anklage zugrunde gelegt wurden, seien bis zuletzt in die militärischen Jahresbefehle umgesetzt worden. Die dort verwendeten Begriffe des „Klassenauftrags“ wertete Hoch als „ideologischen Schießbefehl“ an die Grenztruppen. Jedem im Politbüro sei zudem durch die Realität an der Grenze bekannt gewesen, daß von der Schußwaffe gebraucht gemacht werden sollte, wenn anders eine Flucht nicht zu verhindern war.

Daß die Strafe von Krenz härter ausfällt, begründet Hoch unter anderem damit, daß dieser nicht zuletzt als SED-Sekretär für Sicherheitsfragen an der Ausarbeitung der Politbüro-Beschlüsse mitgewirkt habe. Am Ende werden die Haftbefehle gegen Kleiber und Schabowski vorläufig aufgehoben. Krenz aber wird noch im Gerichtssaal verhaftet. „Ich beuge micht nicht“, sind seine letzten Worte in Freiheit. Wenig später kündigt sein Anwalt Beschwerde gegen den Haftbefehl und Revision beim Bundesgerichtshof an. Severin Weiland