Auch Ihr werdet erwachsen!

■ Ein Adornoscher Geist schwebte am Premierentag über dem 3. Internationalen Jugendcircusfestival in Vegesack

Menschen! Fröhlich noch dazu. Und jung. Geben sich, in aller Unschuld, im Bürgerhaus Vegesack der Lust des Augenblicks hin. Nur weiter so, Ihr Teilnehmenden des 3. Internationalen Jugendcirkusfestivals. Wer weiß, wie lange dieser Zustand währt.

Bunte Tücher im Haar, grell geschminkte Gesichter, Lachen, Glucksen, Sprach- und Kulturbarrieren zum Trotz ein harmonisches Fest drahtiger Leiber und glänzender Kinderaugen. Ihr Wesen auf dem Weg in den unvermeidlichen Tod, wißt Ihr denn nichts von Ozonloch, Arbeitsfrust, Beziehungsstreß und dem universalen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit?

Was, Ihr wißt es, und dennoch lebt ihr unbeschwert, freut Euch aneinander und an gelungenen Einradfahrten, mißlungenen Jonglagen und dem federnden Tanz auf dem Seil? Du Jongleur aus Petersburg, der Du fünf Bälle durch die Luft wirbelst, als würden die Gesetze der Natur nur für Dich nicht gelten: Dein Gesicht erblüht, nur weil der Saal Dich feiert, als hättest Du die Welt vor dem Untergang gerettet. Und,hast Du nicht genau das getan, irgendwie?

Andererseits: Wartet nur ab, wenn Ihr erst einmal erwachsen seid, mithin den Lebensabschnitt erreicht, wo die Fettpölsterchen kommen und der schnöde Griff zum Schnürsenkel mit Hexenschuß bestraft wird. Couchpotatoes werdet am Ende auch Ihr, den virtuosen Fingerflug über die Fernbedienung schließlich zur koordinativen Höchstleistung verklären und den zukünftigen Fußballgöttern der Republik, vor dem Heiligtum der Kulturindustrie thronend, entnervt „Lauf schneller, faule Sau!“zurufen. Bis dahin werde ich auch in Erfahrung gebracht haben, wie der Zauberjüngling die Rasierklingen in seinem Mund auf eine Schnur ziehen konnte, weil Erwachsene unerbittlich klug sind und jede Illusion zerstören (die Bälle, die Du aus dem Nichts in Deine Hand zaubertest, klebten zuvor hinter dem Stuhl, stimmt's?).

Ich weiß, daß alles so kommen wird, denn Generationen freier, kreativer und hoffnungsvoller Erdenkinder wie Ihr endeten so, wurden Eure Eltern und Großeltern, bauten Eigenheime statt Lebensräume, gingen Hausratsversicherungen anstelle vitaler Beziehungen ein. Kleiner Akrobat aus Metz, der Du schwärmst von den Kontakten zu RussInnen und BelgierInnen und davon, daß Küsse keiner Sprache bedürfen, denkst Du nicht schon jetzt manchmal daran, daß Du Dich verändern und schon bald über die Fremden schimpfen wirst, die Dir Arbeit, Frau und überhaupt alles nehmen? Du trauriger, unbekannter Clown, dem es nie gelang, Teller auf dem Kopf zu balancieren, ahntest Du nicht mehr von eben dieser tristen Zukunft, als der Augenschein vermuten ließ? Und Du, unbekannte Schöne aus Petersburg, der wohl der Stalinismus einst das Skelett raubte, so daß Du Dir nun in den eigenen Hintern beißen kannst, ist Dir eigentlich klar, daß auch Du zumindest Bandscheiben hast? Und schließlich Ihr Erwachsenen, die Ihr mit stolzgeschwellten Nasen die Schönheit des unverzweckt Lustvollen und Eure unwiederbringlich verlorene Kindheit beklatschtet, werdet Ihr Euch dieses rauschhaften Nachmittags erinnern, wenn das rauhe Leben und das Diktat der Leistungsgesellschaft nach Euren Kindern greift?

Ich alter, längst schon toter Mann, ich weiß, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt. Und daß wir, aller Tragik Grund, kein anderes als dieses Leben haben. Aber ich irre mich gern. Zumindest in diesem Punkt. zott

Das Programm des Jugendcircusfestivals ist, auch für Nichtgeister, noch zu sehen: Heute im Kulturzentrum Schlachthof (16 Uhr u. 20 Uhr), Donnerstag im Theater am Leibnizplatz (16 Uhr u. 20 Uhr), und Freitag im Bürgerhaus Mahndorf (16 Uhr u. 20 Uhr)