Kritik: Aids-Patienten schlecht versorgt

■ Zu viele Ärzte sind über neue Therapie-Möglichkeiten schlecht informiert / Achte Bundes-Positiven-Versammlung in Bremen / Der bundesweite Kongreß erlebt einmaligen Ansturm

Die Bundes-Positivenversammlung, die morgen in Bremen beginnt, verzeichnet ungeahnten Zulauf. Erstmals in der Geschichte der deutschen Aids-Bewegung müssen die Veranstalterinnen des Kongresses, die Deutsche Aids-Hilfe in Berlin und die Bremer-Aids-Hilfe, interessierte Betroffene abweisen. Nur Tagesgäste werden im Bremer Marriott-Hotel noch Einlaß finden. Sämtliche Betten, die die VeranstalterInnen vermitteln konnten, sind belegt.

Hinter diesem Ansturm aber steckt eine tiefe Niederlage – und eine große Verunsicherung unter HIV-Erkrankten, sagt Ralf Rötten von der Deutschen Aids-Hilfe in Berlin. Nach den ersten Freudenbotschaften von verbesserten Überlebenschancen durch neue Mehrfach-Kombinationspräparate hat jetzt die große Enttäuschung Aids-Infizierte gepackt. Die massiven Nebenwirkungen der vor kurzem noch hochgelobten Präparate machen den Erkrankten Angst. Diese Medikamente führen im schlimmsten Fall zur „totalen Verblödung“, berichten Aids-HelferInnen. Seit der Gewinn an Lebenszeit mit dem deutlichen und langfristigen Verlust von Lebensqualität einhergeht, wird die medizinische Therapie für viele Infizierte zur Farce. Diese neue Ungewißheit wird – ebenso wie medizinische Fragen, die sich daraus ergeben – ein Schwerpunkt des Kongresses sein. Weiteres Hauptthema der viertägigen Veranstaltung ist der Zusammenhang zwischen Krankheit und Armut.

Trotz gestiegener Lebenserwartung haben viele HIV-Infizierte den Arbeitsplatz verloren; andere hatten ihn – in Erwartung des baldigen Todes – noch selbst gekündigt. Ein Wiedereinstieg in den Beruf aber ist so gut wie undenkbar. Selbst das Durchhalten am Arbeitsplatz mit den neuen Medikamenten bringt viele Probleme. „Wer die Präparate nimmt, ist trotzdem nicht durchgängig voll belastbar“, erklärt Uli Meurer, HIV-Referent der Berliner AIDS-Hilfe. In den Arbeitsgruppen „Zum Sterben zuviel – zum Leben zuwenig“und „Ich will Luxus“werden deshalb auch ganz praktische Erfahrungen zum Überleben mit Sozialhilfe besprochen.

Daß die Bundes-Positiven-Versammlung in diesem Jahr in Bremen stattfindet, sehen die hiesigen MitveranstalterInnen als Erfolg. Sie wollen „Akzente im Nordwesten“setzen. „Bremen hat's nötig“, sagt Thomas Fenkl von der Bremer Aids-Hilfe. Die Versorgung von Betroffenen werde durch Kürzungen im sozialen Bereich und durch die Einführung der Pflegeversicherung immer komplizierter – und für Kranke bisweilen unerträglich aufwendig. So führe die Pflegeversicherung lediglich zu Verschiebungen bei den Leistungsträgern, erklärt Rötten. Die PatientInnen müssen deshalb von Pontius zu Pilatus laufen. „Sie geraten durch wechselnde Ansprechpartner und immer neue Zuständigkeiten unter enormen psychischen Druck“, stellte Rötten fest.

Aber auch den Bremer Ärzten stellen die Aids-ExpertInnen ein schlechtes Zeugnis aus. „Immer mehr Bremer PatientInnen wandern nach Hamburg oder nach Hannover ab, weil die Ärzte dort mehr Erfahrungen mit neuen Therapien haben“, klagt Fenkl. „Ich kenne welche, die fahren sogar bis nach München, um sich dort behandeln zu lassen.“Wer sich trotzdem in Bremen behandeln läßt, hat nicht viel Wahl. Immer noch reagieren viele Bremer Mediziner nach Aussage der Bremer Aids-Hilfe mit Vorbehalten auf Aids-Infizierte, so daß die rund 200 registrierten Bremer Aids-PatientInnen fast alle in nur zwei Praxen behandelt werden. Doch der Kleinstadt-Charakter Bremens birgt viele Risiken, erkannt zu werden. Auch deshalb, aus Angst davor, daß die behandelnde Krankenschwester womöglich eine Nachbarin sein könnte, fahren viele gleich zum Arzt nach Hamburg“, sagt Fenkl.

Fenkl selbst bezweifelt die offiziellen Angaben zur Zahl der AIDS-Kranken in der Hansestadt. Die Erhebungen des Robert-Koch-Instituts könnten nicht stimmen. „Das Institut zählte seit 1984 in Bremen 89 Aids-Tote. Ich selbst habe aber bei meiner Arbeit 70 davon sterben sehen. Und es kann ja wohl nicht sein, daß ich allein 80 Prozent der Sterbenden begleitet habe“, sagt Fenkl. kk