„Keine Amnestie fürs Politbüro“

■ Hans-Jochen Tschiche, grüner Fraktionschef in Sachsen-Anhalt, hält nach dem Politbüro-Urteil nichts von einem Schlußstrich

taz: Der frühere Staatsratsvorsitzende Egon Krenz wurde zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt und sitzt derzeit ein, seine Mitangeklagten Günter Schabowski und Günther Kleiber zu jeweils drei Jahren Gefängnis. Ist das Strafmaß zu gering ausgefallen?

Hans-Jochen Tschiche: Die Strafen sind angemessen. Ich bin vor allem froh, daß nicht nur die Mauerschützen, sondern jetzt auch die politisch Verantwortlichen individuell bestraft worden sind.

Aus den Politbürobeschlüssen selbst, die der Anklage zugrundegelegt wurden, läßt sich nicht eindeutig ein Tötungsauftrag an die DDR-Grenztruppen herauslesen. Bewegt sich das Urteil da nicht auf sehr dünnem Boden?

Bei der Verfolgung der DDR- Regierungskriminalität stehen wir in der Tat vor ungeheuren Schwierigkeiten. Denn es gilt, nicht die Schuld der Gremien, sondern des einzelnen nachzuweisen. Ich bin heilfroh, daß im Falle des Politbüros eine juristische Konstruktion gefunden wurde, die ein Urteil erlaubte – auch wenn diese Konstruktion nicht ganz befriedigend ist.

Mit dem Urteil gegen das Politbüro ist die Spitze der DDR abgeurteilt. Der ohnehin schwierige Einheitsprozeß könnte durch einen in Haft einsitzenden Krenz zusätzlich belastet werden, glauben manche. Stellt sich da jetzt nicht die Frage nach einer Amnestie?

Nein. Was die Politbüro-Mitglieder angeht, sollte man jetzt keinen Schlußstrich ziehen.

Halten Sie den Zeitpunkt für zu früh?

Ich habe da ein ganz anderes Problem. Die moralische und politische Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit hat ja nicht in dem Maße stattgefunden, wie wir es uns 1990 vorgestellt haben. Die damalige Situation war vergleichbar mit der der Bundesrepublik 1949. Sie hat, wie der Osten nach 1990, auf die alten Eliten nicht verzichten wollen. Tatsache ist, daß die übergroße Mehrheit, die in der DDR gelebt hat, das System durch Schweigen und Weggucken mitgetragen hat. Die eigentliche, tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses Teils Deutschlands wird also erst die nächste Generation wirklich angehen. Wenn wir, die Generation der Verstrickten, jetzt aber sagen: Laßt uns Schluß machen, dann klänge das so, als würden wir vorzeitig aus der gesellschaftlichen Debatte aussteigen. Das aber kann nicht sein.

Aber weitere Verfahren gegen Mauerschützen, Grenztruppenkommandeure und andere ersetzen keine historische Aufarbeitung.

Das ist mir sehr wohl klar. Die bisherigen Verfahren haben aber eine Dimension, die weit in die Zukunft reichen. Man sollte sich fragen, ob nicht Menschenrechtsverletzungen künftig generell juristisch geahndet werden können – wie es etwa jetzt in Den Haag mit den Verfahren gegen Serben und Kroaten versucht wird. Die Verfahren zur DDR-Regierungskriminalität in der Bundesrepublik zeigen sehr anschaulich die Defizite, auf die das internationale Rechtssystem noch keine Antworten hat. Da müßten Korrekturen vorgenommen werden.

Gerade der zu Ende gegangene Prozeß gegen die Politbüro-Mitglieder zeigt doch, daß man zu juristischen Verrenkungen greifen muß, um ein Urteil fällen zu können. Um das künftig auszuschließen, sollten klare juristische Formeln für Menschenrechtsverletzungen formuliert werden. Interview: Severin Weiland