Mao gegen Bulldogge in Uniform

■ Liedzeile "Deutschland, verrecke!" vor Gericht: Angeklagter, dem auch schwere Körperverletzung auf 1.-Mai-Demo vorgeworfen wird, ist seitdem in U-Haft

Die Unterschiede könnten größer nicht sein: Der Angeklagte, schlank mit langen dunklen Haaren, trägt ein T-Shirt mit einem großen Mao-Kopf. Über den bulligen Oberkörper des Polizeizeugen mit rappelkurzen blonden Haaren spannt sich ein T-Shirt mit einer Bulldogge in Uniform. Ruhig und fest schaut Mao vom Baumwollgewebe. Die Dogge in Uniform dagegen fletscht ihre riesigen Zähne und rasselt mit Handschellen.

Richter Holzinger macht keinen Hehl daraus, daß der Angeklagte und die etwa 60 Unterstützer im Saal und auf dem Flur nicht seine Kragenweite sind. Ihre Forderung nach einem größeren Saal quittiert er mit einer Unterbrechung. Als Ruhe herrscht, fährt er mit dem Prozeß vor dem Landgericht fort, ohne die Fortsetzung noch einmal auf dem Flur ausrufen zu lassen.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten Ulrich L. Verunglimpfung des Staates und gefährliche Körperverletzung vor. Der 36jährige soll auf der revolutionären 1.-Mai-Demonstration in Kreuzberg die Liedzeile „Deutschland, verrecke!“ abgespielt haben – ein Vergehen, das mit einer Geldstrafe und Haft bis zu zwei Jahren geahndet wird. Gemeint ist das Lied „Deutschland“ der Punkband „Slime“, das frei im Handel erhältlich ist. Als ein Polizist ihn fragte, ob dieses Lied nicht indiziert sei, sei der Beamte von Demonstranten angegriffen worden, unter ihnen Ulrich L. Mit „schweren Sportschuhen“ soll er ihn in den Magen getreten haben, einen zweiten Polizisten soll er mit „beschuhtem Fuß“ getreten haben – ein Delikt, dessen Strafmaß zwischen drei Monaten und fünf Jahren liegt. Obwohl der Angeklagte über eine feste Meldeadresse verfügt, sitzt er seit dem 1. Mai in Untersuchungshaft. Begründung: Die Adresse sei eine Scheinadresse. Angesichts des zu erwartenden Strafmaßes bestehe Fluchtgefahr.

Während der gestrigen Verhandlung blieb von der gefährlichen Körperverletzung nicht viel übrig. Das in der Anklage als „schwere Sportschuhe“ bezeichnete Schuhwerk des Angeklagten beschrieb der Polizeizeuge als „leichte Turnschuhe“, die eher „zum Weglaufen als zum Treten geeignet“ seien. Außer einer kleinen Prellung im Gesicht habe er keine Verletzungen davongetragen. Der Angeklagte, der sich zu den Vorwürfen nicht äußerte, verlas eine Rede, in der er von einem „politischen Prozeß“ sprach. „Einer soll exemplarisch bestraft werden“, sagte Verteidiger Heinz-Jürgen Schneider. Er beantragte neben Haftverschonung die Ladung von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU). Er solle Stellung zur Polizeitaktik am 1. Mai nehmen. Weiterhin solle ein Vertreter der Plattenfirma „Modern Music“, die „Slime“ vertreibt, gehört werden. Dieser werde bestätigen, daß es zwei Versionen des Liedes gebe und daß es frei im Handel erhältlich sei. Der Prozeß wird kommenden Donnerstag mit der Vernehmung eines zweiten Polizeibeamten fortgesetzt. Barbara Bollwahn