Jogger im Weltuntergang

Im Freizeitsport ist die Hölle los. Monster und Killer liegen voll im Trend. Dabei machen übersteigerte Forderungen dem Menschen das Leben schwer. Eine Reise durch Magazine  ■ Von Marc Bielefeld

Erwin ist ein „Mega“-Typ. Gerade hat er auf seinem neuen „Voll-Aluminium-Monster“-Bike mit „V-Links“, „Manitou Mach 5 SX Gabel“ und „Fox Alps 4R Federelementen“ wieder ein Rennen gewonnen. Aber auch sonst ist Erwin kein Müßiggänger. Er ist ein „radikaler“ Windsurfer, springt „Killerloops“ in den „brutalsten Revieren“ der Welt und geht in „mörderischen“ Stromschnellen zum Rafting. Auf seinen „Hipno“- Skates düste er zum Supermarkt und rast in seinen brandneuen „Mad max“-Laufschuhen zum „Stair-Jogging“. Demnächst will er auch noch auf eine Kirche klettern – „Church Climbing“. Erwin „Superman“?

Nein. Erwin heißt Müller und ist eigentlich ein ganz normaler Mensch. Seitdem er als aktiver Freizeitsportler allerdings ständig die Sportübertragungen schaut und Fitneßmagazine abonniert, könnte man jedoch meinen, er sei etwas abgehoben. Als er kürzlich mit Pulsfrequenzmesser ankam und sich nach dem Joggen mit einem kleinen Gerät Blut aus dem Finger entnahm, um die Laktatwerte zu bestimmen, war selbst seine Frau baff. Aber das sei nur so eine Phase, meint sie.

Solche Phasen machen immer mehr Menschen durch. Rund 25 Millionen Freizeitsportler joggen, radeln und rollen inzwischen durch Deutschland. Tendenz steigend. Seit Becker-Boom, furiosen Fußballübertragungen, Franziska van Almsick und dem jüngsten Telekom-Triumph gerät das Land in Bewegung. Da ist ein neues Lebensgefühl entstanden. Die Menschen denken positiv und gewinnen dem Leben – man radelt nicht mehr, man trainiert – ganz neue Seiten ab.

Vor allem die Sprache wird zunehmend extremer. Ohne die „ultralighten Sneakers mit Air Pumps“ und die passenden Socken im „Double Action Pack“ läuft nix mehr. Dabei haben die coolen Sprüche vor allem inhaltlich etwas Wesentliches bewirkt: Das Mittelmaß ist verbannt, dem Normalen wird kein Platz mehr eingeräumt. Auf einem Streifzug durch TV-Kanäle, Magazine und Werbekampagnen erkennt jeder: Der Superlativ hat Kinder bekommen. Sie sind hart und fordernd – „mega“, „hyper“, „giga“. Nur noch eines zählt: Höchstleistungen. Wenn die Sprache wirklich Spiegel unserer Seele ist, haben wir uns in einsame Höhen verstiegen.

Die verbale Übersteigerung zeigt den Menschen im Rausch der Superlative. Es wird nicht mehr geredet, es wird geschrien. Und was einem da vorgesetzt wird, ist bisweilen beängstigend. „Terminatoren“, „American Gladiators“, „Magic Johnsons“, lauter „High- Speed-Maschinen“. Kurz: Extremisten in jeder Disziplin. „Life beyond the limits“ – Leben jenseits der Grenzen – lautet treffend der Spruch einer Bekleidungsfirma. Der Hersteller eines Powerdrinks scheucht seinen Werbehelden erst einmal über 5.365 Stufen und 10 Stockwerke, ehe er die erfrischende Elektrolytmixtur trinken darf. Der Slogan: „Life is a tough game.“

Leicht wird es einem tatsächlich nicht gemacht. Die sprachliche Reizüberflutung gleicht metaphorischem Mord und Totschlag. Was ein deutscher Sportschuhhersteller mit „wissenschaftlicher Entwicklung für übernatürliche Leistungen“ noch vorsichtig ausdrückt, bringt eine Anzeige für moderne Sportkleidung in dem amerikanischen Magazin Sports Illustrated auf den Punkt: „Entweder du schlägst zu. Oder du wirst niedergeschlagen.“

Die Power-Parolen haben sich ihren Weg in die Köpfe gebahnt. Auf Straßen, Joggingpfaden, Radwegen und in Fitneßstudios ist die Plakatwelt Realität geworden. Immer weiter, immer schneller, immer effizienter – Jogger hetzen den verlorenen zwei Minuten vom Vortag hinterher, die nicht ganz optimalen Laktatwerte ständig im Nacken. In Muckibuden knechten, pressen und pumpen sich braungebrannte Sekretärinnen in die Beletage der Waschbrettbäuche. Radler programmieren die mikrochipgesteuerte Gangschaltung, um die Übersetzungswerte besser berechnen zu können. Und Erwin? Erwin ist im grünen Rennanzug irgendwo im französischen Hochgebirge unterwegs, an den Füßen windschnittige Gummigamaschen, an den Beinen Thermo-Tights, auf dem Kopf einen stromlinienförmigen Sturzhelm. Um den cw-Wert jetzt noch zu verbessern, müßte eigentlich nur noch der Kopf ab.

Daß hier ein latenter Druck zur Leistungssteigerung besteht, zeigt schon die Statistik der Blessuren. Über 300.000 Sportverletzungen gibt es in Deutschland jedes Jahr, Tendenz steigend. Frakturen, Quetschungen, Distorsionen – noch nie waren die Arztpraxen so voll wie montags nach dem Wochenende. Eigentlich kein Wunder. Die Bayerischen Motorenwerke zum Beispiel fordern das lesende Volk in einer Anzeige frank und frei zu mehr Beweglichkeit auf. In fetten weißen Lettern steht da: „Run, Sweat, Row, Pump, Kick, Swim, Push, Glide“. Den Verbraucher sähe man eben gern als High-Performance-Maschine. Schnell, effizient, berechenbar – und ferngesteuert. Die Aufforderung, BMW zu fahren, ist hier natürlich die logische Pointe.

Soviel Power sollte Mut machen. In fitten Bodys sollen ja bekanntlich auch gesunde Geister stecken. Doch Psychologen stellen fest, daß immer mehr Menschen unter undefinierbaren Ängste leiden. Vielen rast der Puls schon im Sitzen, rinnt der Schweiß schon beim Schritt vor die Haustür. „Der Körper ist ein Prachtbau, die Psyche ein Kartenhaus“, beschreibt ein Psychologieprofessor an der Hamburger Uni das Phänomen Angst als neue Volkskrankheit. Von vielen Medien werde mit hochtrabenden Verheißungen und Forderungen „die Angst vorm Versagen“ geschürt.

Im Sport ist man schon weiter. Man bereitet sich auf die Apokalypse vor. So wirbt der bekannteste US-Fabrikant für Joggingschuhe: „Angenommen, der Weltuntergang und deine nächsten 10 Kilometer fallen auf den gleichen Tag.“ Eine schöne Vorstellung. Hechelnd, schwitzend, aber stets glücklich dem Ende entgegen. Swoosh!

Doch trotz Szenarien biblischen Ausmaßes wird die Sportindustrie eines nicht verhindern können: Wenn die Welt untergeht, kommt keiner davon. Auch Erwin nicht. Nicht mit luftgedämpften Sohlen, ultraleichtem Titanrahmen oder giftgrünem Integralhelm. Laktatwerte hin oder her. Dann hilft nur noch eines: Runter von der Kirche, rein in die Kirche, beten.