Vom Jucken der Kugel im Kopf

Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: Michael Ondaatje schrieb „Die Gesammelten Werke von Billy the Kid“. Annäherung an eine Legende des Wilden Westens und zugleich Porträt des Künstlers als junger Gunman  ■ Von Jörg Magenau

Er hieß William Bonney, aber sie nannten ihn Billy the Kid. Mit 22 wurde er erschossen. Da hatte er schon 22 Menschen umgebracht – für jedes Jahr einen – und war eine der berüchtigtsten Figuren des Wilden Westens. Angeblich war er ein freundlicher, gutgekleideter junger Mann mit zarten Händen und ein guter Liebhaber. Es gibt nur wenige Fotos von ihm. Auf einem sieht man ihn auf einer Mauer stehen und Wasser in einen Eimer pumpen. Ein anderes zeigt ihn auf der Straße in der Nähe des alten Beaver Smith's Saloon: wenig aussagekräftige, unscharfe Bilder aus der Frühzeit der Fotografie.

Michael Ondaatje läßt die Stellen im Buch leer, an denen diese Fotos stehen könnten. Mythen lassen sich nicht abbilden. Legenden entstehen da, wo es keine Bilder gibt, aber dafür viele Geschichten, die man sich erzählt: wahre und erfundene, plausible und unglaubwürdige. Aus ihren Splittern muß sich jeder sein eigenes Bild zusammensetzen.

Ondaatjes Buch mit dem seltsamen Titel „Die gesammelten Werke von Billy the Kid“ ist eine frühe Veröffentlichung, bereits 1970 in Toronto erschienen (da war Ondaatje 27), aber erst jetzt, nach dem Erfolg von „Der englische Patient“, ins Deutsche übersetzt. Ebenso wie die einige Jahre später entstandenen Geschichten über die Jazzlegende Buddy Bolden („Buddy Boldens Blues“, 1976, deutsch 1995) ist auch „Billy the Kid“ keine stringente Erzählung, sondern eine intuitive Annäherung an eine Figur. Ondaatje nutzt historisches und fiktives Material, echte und erfundene Zeugenaussagen, Interviews und Comicerzählungen, um daraus atmosphärisch dichte Momentaufnahmen zu entwickeln. Er arbeitet wie ein Filmtechniker. Er schneidet und collagiert sein Material und betrachtet die Szenerien wie durch den Sucher einer Kamera – oder gar, so heißt es im Text, „wie auf dem Bildschirm eines Pferdeauges“. Es sind unsentimentale Blicke, die jedes Detail erfassen, ohne Zusammenhänge zu konstruieren: Etüden der Wahrnehmung, poetische Annäherungen an eine Welt voll unmittelbarer Sinnlichkeit und eruptiver Gewalt.

Negative Zucht

In den meisten Episoden ist Billy der Ich-Erzähler. Seine „Werke“ sind kleine Gedichte und Geschichten aus dem letzten Lebensjahr: von der Hitze der Steppe, von Begegnungen mit Frauen in diversen Hotelzimmern, vom Leben als Gejagter. Aber auch Billys Freunde und Feinde kommen zu Wort: Tom O'Folliard, dem das explodierende Gewehr das Gesicht zerriß, so daß sich seither „bei jedem Atemzug sein Hals und seine Wangen blähten, als enthielten sie einen Beutel von darin eingeschlossener Luft“. Oder John Chisum, der einen Käfig voller seltener Vögel und Eulen besitzt und von einem Hundezüchter berichtet, der eine Art negative Zuchtwahl betrieb. Am Ende waren seine Tiere so degeneriert, daß sie kaum mehr wie Hunde aussahen, dumm und rasend waren und ihren Züchter inklusive Armbanduhr auffraßen.

Fast alle Geschichten handeln vom Überleben oder vom Sterben. Die Extremsituation ist der Normalfall, aber die Beteiligten stecken so stoisch darin, als wären sie es nicht selbst. Ondaatje entwirft hitzeflirrende Bilder, in denen sich chronologische und biographische Konturen auflösen. Kein Wort über Herkunft und Kindheit von Billy the Kid, kein Lebenslauf. Statt dessen die ungebrochene Intensität einzelner Augenblicke: Wildwest-Impressionismus. Wir sehen Billy in einer Scheune sitzen und auf Ratten schießen. Wir sehen ihn, wie er fiebernd in einem dunklen Raum liegt und ins lichtdurchflutete Land hinausblickt. Wir erleben, wie er tötet, wie seine Freunde um ihn herum von Kugeln zerfetzt werden, und schließlich seinen eigenen Tod: „Das Ende von allem: ich liege an der Wand / das Jucken der Kugel in meinem Kopf festgefroren / mein rechter Arm hat die Fensterscheibe durchschlagen / und die zerschnittenen Adern wecken mich auf / so daß ich das Innere beobachten und durch / das Fenster schauen kann.“

Die Wahrnehmungen organisieren sich stets entlang der markanten Grenze von Innen und Außen. Sie ersetzt die Trennung zwischen Gut und Böse und signalisiert, daß es um den Entwurf einer Ästhetik geht und nicht um Moral, um Sinnlichkeit und nicht um Sinn. Ob Billy the Kid oder sein Jäger und einstiger Freund Pat Garrett – beide sind im Töten geübt, und über beide heißt es gleichermaßen: „Es war da Gutes mit Schlechtem vermischt und Schlechtes mit Gutem.“ Der Blick ins Innere interessiert sich nicht für Charakter und Psyche, sondern für Muskeln, Knochen und Sehnen: als ob in ihnen das Geheimnis des Lebens zu finden wäre. Als seine Freundin Angela von Schüssen verletzt wird, nimmt Billy ein Messer, schneidet ihr die Haut am Arm auf, um die Kugeln herauszuklauben, und auch diese schmerzhafte Operation wird zum ästhetischen Erlebnis und meditativen Moment der Selbstvergewisserung: „Schau hin, ich kann in deinen Arm hineinschauen / nichts durcheinander da drin / schau, wie sauber / Ja, Billy, sauber.“

Experimenteller Tod

Der Körper ist ein Experimentierfeld: eine fremde Landschaft wie die Steppe, in die der Schmerz von außen einfällt als feindlicher Reitertrupp. Hitze und Durst sind dazu da, sich selbst wahrzunehmen. Auch der Tod, mit dem jederzeit zu rechnen ist, ist nur ein Experiment. Deshalb erscheint das Töten nicht als Verbrechen, sondern als ein künstlerischer Akt neugieriger Erkenntnis: „Jesus, das hab' ich nicht gewußt, hast du's gewußt / die Nerven quollen raus / die Leber lief da am Boden aus / wie ein geköpftes Huhn ruckartig flatternd / braun über den ganzen Hof / hab' das einmal bei meiner Tante gesehen / seither nie wieder Huhn gegessen.“

Ondaatjes „Billy the Kid“ ist ein seltsames, faszinierendes Buch. Womöglich ist es ein Vorteil, daß es um Jahrzehnte verspätet auf deutsch erscheint. Die Emotionslosigkeit des Künstlers als junger Gunman paßt so gar nicht in die Flower-Power-Peacenik-Entstehungszeit des Textes, und auch im Entwurf einer moralfreien Ästhetik und in der Thematisierung von Körperlichkeit scheint er besser in die pragmatischen 90er Jahre zu passen – „Innerlichkeit“ wurde in den 70ern ja noch als sehr seelenvolle Angelegenheit ernst genommen. Vielleicht haben gute Bücher die Eigenschaft, geduldig auf die Zeiten zu warten, in denen sie gelesen werden.

Michael Ondaatje: „Die gesammelten Werke von Billy the Kid“. Aus dem Englischen von Werner Herzog. Hanser Verlag, München 1997, 144 Seiten, 34 DM