Massenmord in Algerien

■ 300 Tote beim blutigsten Anschlag seit 1992. Radikal-Islamisten sollen Dorfbewohner erschossen und enthauptet haben. Angeblich 20 Mädchen verschleppt

Madrid (taz) – 300 Menschen sind in der Nacht zu Freitag in Sidi Moussa, einem Dorf 25 Kilometer südlich von Algier, ermordet worden. Dorfbewohner, die die schlimmste Terroraktion seit dem Ausbruch des Machtkampfes zwischen Islamisten und Armee 1992 überlebt haben, berichteten von 300 Angreifern, die in Lkw und Autos in das Dorf eingefallen seien und fünf Stunden lang gewütet hätten. Die Opfer wurden mit Schußwaffen und Säbeln niedergemetzelt, die Leichen verbrannt. Sie hätten etwa 20 junge Mädchen verschleppt und vor ihrem Rückzug zahlreiche Häuser gesprengt. Die algerische Regierung hat 98 Tote bestätigt. Die Täter sollen zu den radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) gehören.

Die Presse des nordafrikanischen Landes vermeldet seit einer Woche fast täglich neue blutige Rekordzahlen. Seit die Gewerkschaft UGTA am 20. August, dem Gedenktag zum Auftakt des Nationalen Befreiungskrieges gegen die einstige Kolonialmacht Frankreich, Zehntausende von Menschen gegen den Terrorismus auf die Straßen der großen Städte gebracht hatte, schlagen die GIA zu, wo sie nur können. Selbst Algier blieb von der Gewaltwelle nicht verschont. Bei zwei Bombenanschlägen starben mindestens 18 Menschen; seit dem vergangenen Wochenende sind mehr als 500 Tote zu beklagen.

Nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen und dem Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS) zählte das US-State-Department 60.000, algerische Menschenrechtsorganisationen 120.000 Tote, die meisten davon in der fruchtbaren Ebene Mitiya, in der auch Sidi Moussa liegt. Das sogenannte „Todesdreieck“ verläuft zwischen den südlichen Vororten Algiers und den beiden Kleinstädten Medea und Blida in den ersten Ausläufern des Atlas. Die einstige FIS-Hochburg gilt als Hauptrückzugsgebiet der GIA. Interne Flügelkämpfe führen vermutlich dazu, daß bewaffnete Islamisten seit geraumer Zeit genau dort ihre Massaker anrichten, wo sie einst Unterstützung genossen. Reiner Wandler