Mandelbrot-Wucherungen im Körper auf der Spur

■ Die fraktale Geometrie des Heinz-Otto Peitgen hat Einzug in die Medizin gehalten / Auch Metastasen wachsen chaotisch

„Die Wahrscheinlichkeit, daß wir beide, Sie und ich, bald eine Leber-Operation nötig haben, ist so unwahrscheinlich nicht.“Der Professor vom Bremer Zentrum für Medizinische Diagnosesysteme und Visualisierung (MeVis) lächelt so verbindlich, als hätte er gerade einen Operationstermin festgesetzt. Sollte Heinz-Otto Peitgen nicht eigentlich über das Chaos sprechen und über die fraktale Geometrie? Damit hat er sich seinen Namen gemacht, weit über Fachkreise hinaus: als Chaos-Professor.

Aber um die alternde Grundlagenwissenschaft geht es in der MeVis längst nur noch am Rand. Stattdessen steht die Anwendung im Vordergrund. Man beginnt nun, in der Medizin damit zu arbeiten. Eines der bei MeVis entwickelten Programme geht jetzt in die letzte Phase der klinischen Erprobung. In Marburg, Hamburg und Hannover arbeitet man bei Leber-Operationen mit MeVis-Software.

Aber in Professor Peitgens Institut am Rande der Bremer Uni dräut das Chaos noch aus jedem der gläsernen Büros – wenn auch nur von den Wänden: Kein Blick, der sich nicht in einer der Mandelbrot-Geschwülste zu verlieren droht. Kein Schritt, der nicht auf grellbunte Fraktalgebirge zuführt.

Im Insitut der MeVis fungieren die berühmten Computer-Bäumchen als das Corporate Design einer Crew von 25 Mathematikern und Naturwissenschaftlern, die an ihren Rechnern sitzen und über wuchernde Mandelbrote im menschlichen Körper nachdenken: über die Gefäßsysteme in Brust, Leber, Lunge. Und über ihre Metastasen.

„Das ist die einzige Chance, die Sie haben!“„Sie“, sagt Heinz-Otto Peitgen und meint den Reporter. Der Mann ist gnadenlos konkret. Ein Mathematiker von hohem Ansehen und ein praktizierender Didaktiker aus Berufung. Unendlich wichtig ist ihm die Vermittlung. „Meine Kräfte kommen sehr viel besser zur Entfaltung, wenn sie im Zusammenspiel von unterschiedlichen Welten ablaufen.“Beispielsweise von Mathematikern und Krankenhaus-Radiologen.

Die Zahlenwelt der einen mit der Bilderwelt der anderen kompatibel zu machen, ist Ziel der MeVis. Ganz anwendungsorientiert: In den Kliniken, die mit der Software des Forschungszentrums arbeiten, guckt man sich die Lage von Lebermetastasen jetzt dreidimensional am Bildschirm an. Die neue Geometrie errechnet den Aufbau der Gefäßsysteme in der Leber, vier an der Zahl.

Jedes der Adernetze hat in jedem menschlichen Körper grundsätzlich den gleichen Aufbau. Und ist doch von Individuum zu Individuum „irrrrrsinnig“verschieden, sagt Peitgen. Da gibt es zum Beispiel die Pfortader mit ihrer Eichenstruktur. Mit einem dicken Aderstamm tritt sie vom Darmtrakt kommend in die Leber ein. Über acht Hauptäste verzweigt sie sich ins vielfältige Nebengeäst. Um sie herum winden sich efeuartig Arterien und das Gallensystem. Von oben herkommend, der Pfort-ader-'Eiche' entgegen – erklärt Heinz-Otto Peitgen und verschränkt langsam die Hände – sucht sich zwischen ihrem Geäst das Venen-Bäumchen seinen Weg. Und irgendwo sitzt die Metastase.

Die MeVis mit ihrer Software sagt, wo genau. Indem sie die Gefäßsysteme als Ganzes ins Bild setzt. Dabei bedient sie sich der Computertomographie, die einen Schnitt quer durchs Gefäßegeflecht der Leber legt. Das Peitgen-Team errechnet daraus den weiteren Verlauf des Adern und zeigt dem Chirurgen in einem dreidimensionalen Bild den Weg fürs Skalpell – vorbei an den lebenswichtigen Hauptästen des Gewebes.

Grandios, keine Frage. Und fürchterlich die Vorstellung für den fraktalen Geometer, daß diese neue Harmonie zwischen Mathematiker, Radiologe und Chirurg aus dem Gleichgewicht geraten könnte. Besondere Kontakte hat Heinz-Otto Peitgen innerhalb Bremens deshalb zu den niedergelassenen Radiologen aufgebaut. Seit zwei Jahren trifft man sich und entwickelt gemeinsam Geräte für die Brustkrebs-Früherkennung. Und mit dem St. Jürgen-Krankenhaus und im Zentral-Krankenhaus Ost arbeitet man an der Lungen-Diagnostik. Lunge, Brust und Leber – die fraktale Medizin ist da zu Hause, wo die Körper als dynamische Blutkreis-Netze wuchern. ritz