: DDR-Opposition nicht zum Aschenputtel degradieren
■ betr.: „Was hatte Wolf mit Bahros Buch vor?“, Interview mit Guntolf Herzberg, taz vom 22.8. 97
Herzberg geht in seinem Interview mit der DDR-Opposition scharf ins Gericht: „Ich hatte immer gehofft, daß, wenn es eines Tages zu Veränderungen in der DDR kommen sollte, die Schubläden der Intellektuellen voller Ideen wären. Wir wissen heute, sie waren leer. Die praktische Tätigkeit von Opposition und Dissidenten war im Vergleich mit Polen oder der Tschechoslowakei lächerlich gering ...“ Herzberg ist 1985 in die Bundesrepublik übergesiedelt. Das war sein gutes Recht. Nicht akzeptabel ist dann aber, wenn er den Hiergebliebenen vorwirft, sie hätten in den Jahren seiner Abwesenheit zuwenig getan.
Doch auch unabhängig davon halte ich seine Kritik für fragwürdig. Bahro hat „Die Alternative“ zu einer Zeit erarbeitet, als in der DDR, von ein paar Seminaren, Diskussionskreisen und illegalen Zirkeln abgesehen, keine gegen die Politik des „realexistierenden Sozialismus“ gerichtete Bewegung existierte. Zu Beginn der 80er Jahre wurde das anders. Weshalb also sollten Intellektuelle zu dieser Zeit ihre Ideen weiterhin in Schubläden verstecken? Was sie an kritischer Analyse und Gegenvorstellungen zu bieten hatten, war vielmehr in Umlauf zu bringen. Und das ist auch geschehen – nicht zuletzt sind diese Ideen in die Gründungserklärungen der Bewegungen und Parteien vom Herbst 89 eingeflossen. Wer sich hingegen erst während der Wende entschloß, seine Vorstellungen endlich publik zu machen, wie etwa die Forschungsgruppe „Moderner Sozialismus“ an der Berliner Humboldt-Universität, hatte angesichts der raschen Entwicklung zumindest auf die politische Entwicklung dieser Zeit kaum noch Einflußmöglichkeiten. Außerdem halte ich die Vorstellung von im stillen Kämmerlein wirkenden Intellektuellen, die, wenn irgendwie und irgendwann die große Wende gekommen ist, ihre Geistesprodukte der staunenden Öffentlichkeit darbieten, für reichlich problematisch – sie bekommen so für mein Empfinden etwas fast schon Hohepriesterliches.
Herzbergs Behauptung schließlich, die Tätigkeit der DDR-Opposition sei im Vergleich zu der in Polen und der Tschechoslowakei lächerlich gering gewesen, geht an den Tatsachen vorbei. Kein Zweifel: Eine Massenmobilisierung wie in Polen hat die DDR-Opposition vor 1989 nie erreicht. Aber das ging den Oppositionsbewegungen in den anderen „realsozialistischen“ Ländern, auch in der Tschechoslowakei, ebenso. Andererseits sind in der DDR-Opposition Themen wie Ökologie oder das Verhältnis zur sogenannten Dritten Welt bearbeitet worden, die in Polen so gut wie keine Rolle gespielt haben. Man sollte, so denke ich, jede dieser Bewegungen in ihrer historisch gewachsenen Eigenart und folglich auch mit ihren Defiziten akzeptieren. Sachliche Gründe, gerade die DDR-Opposition zum Aschenputtel zu degradieren, gibt es nicht. Erhard Weinholz, Berlin
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