■ Die Hauptschüler werden dümmer und dümmer, klagen die Arbeitgeber. Und auch eine Langzeitstudie zeigt: Immer mehr angehende Lehrlinge können immer weniger. Zugleich jedoch werden die Anforderungen an die Schulabgänger höher.
: Ohne Fleiß ke

„Anbei erhalten Sie Ihre Unterlagen zurück, leider haben wir uns für einen anderen Bewerber entschieden.“ Für Tausende von Schülern bedeuteten diese freundlich-distanzierten Briefe nur eines: Sie erhalten keine Lehrstelle. Die Gründe, warum sie abgelehnt wurden, erfahren sie meist jedoch nicht.

Statt dessen lamentieren Arbeitgeber öffentlich immer lauter, ihnen vergehe die Lust, Auszubildende einzustellen. Die jungen Leute seien selbst bei einfachen Aufgaben überfordert. Um Lehrlinge zu testen, gibt Markus Lopisch von der Gartenbaufirma Sponer in Hürth bei Köln den Kandidaten eine schriftliche Hausaufgabe. Für viele ist schon diese Hürde zu hoch. „Mehr als die Hälfte meldet sich nie wieder“, sagt der Personalchef. Um geeigneten Nachwuchs zu finden, „muß ich mir zehn angucken, damit einer übrigbleibt“.

Auch Rudolf Mäusle von der Industrie und Handelskammer Frankfurt am Main rümpft die Nase. Häufiger als früher seien die Bewerbungsschreiben grammatikalisch und von der Rechtschreibung her fehlerhaft oder unzureichend: „In Bewerbungen für Lehrlingsberufe finden wir oft 15 Fehler“, sagt er. Sind Hauptschulabgänger also tatsächlich zu dumm?

Vor allem beim Lesen, Rechnen und Schreiben haben die Leistungen von Schulabgängern stark nachgelassen. Zu diesem Schluß kommt eine Langzeitbeobachtung des Chemiekonzerns BASF. Seit zwanzig Jahren testet das Unternehmen Haupt- und Realschüler nach einem einheitlichen Verfahren. Der Rechtschreibtest umfaßt 40 Wörter: Rezebt, Quahl, Pulfer, Mistrauen. Die Kandidatinnen und Kandiaten müssen entscheiden, ob diese Wörter richtig geschrieben sind.

Wie viel ist 17+77, 128:16? Ohne Taschenrechner können immer weniger Jugendliche die Rechenaufgaben lösen. „Durch den Einsatz von Taschenrechnern ist der Bezug, was sich hinter den Zahlen verbirgt, verlorengegangen“, bemängelt Ingo Schönherr, Leiter des Psychologischen Dienstes bei BASF. Mehr als 30.000 Tests hat er für die Studie ausgewertet. Das Ergebnis zeigt einen kontinuierlichen Abwärtstrend.

Schrieben Hauptschüler 1975 noch 51 Prozent der Wörter korrekt, so sank die Quote im Vorjahr auf knapp 37 Prozent. Bei den Realschülern ging die Quote von 75 auf 63 Prozent zurück. Beim Rechnen sieht es ähnlich aus. Der Anteil der richtigen Lösungen bei Hauptschülern lag vor zwanzig Jahren noch bei 73 Prozent, im vergangenen Jahr bei 53 Prozent. Bei Realschülern rutschten die Leistungen von 76 auf 64 Prozent.

Solch detailierte Statistiken lassen sich bei der Firma Siemens in Berlin nicht abfragen. Dennoch macht man auch dort seit Jahren ähnliche Beobachtungen. Es sei erschreckend, immer wieder festzustellen, daß einige Bewerber nicht in der Lage seien, einfachste Rechenaufgaben zu lösen oder sich sprachlich gut auszudrücken, so Henning Dröse, der Leiter des Schulungszentrums. Die Qualität der Bewerber habe sich fortlaufend verschlechtert. Dies bestätigt auch Jens Jensen, stellvertretender Geschäftsführer der Industrie und Handelskammer Bremen. Die Ausbildungsbetriebe seien „schon zufrieden, wenn sie Bewerber finden, die willig sind zu lernen“.

Jensen meint aber nicht, daß die Schüler von heute dümmer sind. Die Fähigkeiten zu konzentriertem Denken und Lernen hätten sich im Laufe der Jahre durch äußere Einflüsse verändert. Schüler von heute seien zu vielen Secondhand-Realitäten ausgesetzt: Fernsehen, Video, Computern. Zwar gingen 14-, 15jährige heute mit dem Computer spielerisch um, diese Fähigkeiten könnten aber nicht die Mängel beim Rechnen oder Lesen kompensieren. „Im Gegenteil. Wer sich beim Addieren von 1 und 1 am Taschenrechner vertippt, der zweifelt nicht am Ergebnis, wenn im Display eine 4 aufleuchtet.“ Wer niemals zwei Äpfel zusammengelegt habe, habe keine sinnliche Vorstellung davon, daß 1 und 1 nicht 4 sein kann.

Als Ursache für die Schwächen bei den Lehrstellenbewerbern hat Jens Jensen aber auch die steigenden Anforderungen ausgemacht. So würden selbst von Verkäufern heute nicht selten gute Englischkenntnisse verlangt. Und in dem Handelskammerfaltblatt „Was erwartet die Wirtschaft von Schulabgängern“ verlangt Punkt neun: Sprechkompetenz in Fremdsprachen. Der Lehrling, gleich welchen Berufs, soll sich in einer Fremdsprache unterhalten können.

Ein weiteres Problem besteht im Drang nach höherer Bildung. Die heutigen Realschüler seien die guten Hauptschüler von gestern, die guten Realschüler von früher gingen heute aufs Gymnasium. Die Firmen können daher unter Schulabgängern mit Abitur und Realschulabschluß wählen. Für die Hauptschulabgänger blieben immer weniger Lehrstellen übrig. So werden heute die Ausbildungsplätze für Bankkaufmänner und -frauen in der Regel mit Abiturienten besetzt.

Mehr und mehr versuchen die Ausbildungsfirmen die Versäumnisse der Schulen zu beheben. Die BASF bietet mittlerweile Stütz- und Förderkurse für Lehrlinge und Bewerber an, die im Auswahlverfahren knapp durchgefallen sind. Auch in manchen kleineren Betrieben wird gepaukt. Jens Jensen kennt Meister, die mit Auszubildenden in der Mittagspause Diktate üben. Annette Rogalla