„Der Nato-Vertrag wirkte ernüchternd“

■ Waleri Tischkow, 1992 Minister für Nationalitätenfragen im Kabinett Jegor Gaidars, meint, daß vor allem die jungen Rebellen der Kaukasusrepublik den Frieden gefährden

Waleri Tischkow, 56, leitet heute das Ethnologische Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften

taz: Seit einem Jahr herrscht mehr oder weniger Ruhe in Tschetschenien. Ist es dem Präsidenten Aslan Maschadow gelungen, die Fundamente eines neuen Staatswesens zu errichten?

Waleri Tischkow: Aktive tschetschenische Kombattanten gab es im Krieg etwa 5.000, heute dienen in der regulären Armee schon an die 35.000 Soldaten. Militärisch hat die Regierung in Grosny ihre Position also ausbauen können. In anderen Bereichen sieht es schwieriger aus: Die intellektuelle Elite und Leute mit Verwaltungserfahrungen haben das Land verlassen. In der Regierung sitzen nur zwei Hochschulabsolventen. Der Wiederaufbau schreitet langsamer als erwartet voran. Dennoch hat dies der Legitimation Maschadows bislang nicht geschadet. Kurioserweise zwingt der Personalmangel Maschadow, auf Mitarbeiter aus dem oberen Terekgebiet zurückzugreifen, auf die sich schon der von Moskau eingesetzte ehemalige Präsident Sawgajew stützte. Die Tschetschenen aus der Terekebene unterscheiden sich in Bildung und moderner Lebenshaltung deutlich von der Bergbevölkerung. Ohne sie gelingt der Verwaltungsaufbau nicht. Natürlich hört man in Grosny in jüngster Zeit häufiger Kritik: „Jetzt hat auch er uns wieder an die ausgeliefert“.

300.000 Flüchtlinge sind auch ein Jahr nach Kriegsende nicht zurückgekehrt. Woran liegt das?

Die katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein Grund. Nur massive russische Hilfe kann daran etwas ändern. Ein recht beträchtlicher Teil fürchtet zudem Repressionen, weil er sich aus dem Krieg, obwohl wehrtauglich, herausgehalten hat. Es sollen tatsächlich Namenslisten kursieren... Die Situation ist ähnlich wie in den Konfliktgebieten Abchasien und Berg- Karabach. Auch dort gewannen Separatisten den Krieg, erreichten aber ihr politisches Ziel, die Unabhängigkeit, nicht. Die Parolen aus dem bewaffneten Kampf müßten entschärft werden, um den Weg in ein normales Leben zurückzufinden. Politisch und psychologisch tut sich da eine Barriere auf. Die jungen Leute in der Armee sind zu Kompromissen nicht bereit.

Die öffentliche Meinung in Rußland hat sich fast diametral gewandelt. Von Mitgefühl für die Tschetschenen ist nichts mehr zu spüren.

Materielle Hilfe kommt kaum noch ins Land, und auch die Sympathie läßt nach. Zudem hat der Vertrag zwischen der Nato und Rußland – der die territoriale Integrität Rußlands garantiert – ausländische Aspirationen auf ein unabhängiges Tschetschenien zunichte gemacht. Selbst in der Kaukasusrepublik wirkte er ernüchternd. Aber auch Medien und Wissenschaftler in Rußland befürchten heute mehr denn je, ein unabhängiges Tschetschenien könnte zur Destabilisierung des gesamten Kaukasus führen. In der russischen Öffentlichkeit hat die Geiselnahme von Journalisten und friedlichen Bürgern aus Profitinteressen den Tschetschenen sehr geschadet.

Gibt es nach der militärischen Pleite Rußlands nun wenigstens ein strategisches Konzept, wie mit dem Nordkaukasus verfahren werden soll?

Zweifelsohne ist Improvisation ein wesentliches Moment in unserer Regierungspolitik. Dennoch liegt ein Konsens vor: Die Lage muß auf jeden Fall konsolidiert werden. Was wiederum viele nicht davon abhält, widersprüchliche Impulse auszusenden, oftmals aus eigennützigen Motiven. Regierung und Parlament ziehen nicht am selben Strang, selbst im nationalen Interesse nicht. Sicherheitsratschef Iwan Rybkin, der sich vornehmlich mit Tschetschenien befaßt, gehört nun andererseits auch nicht zu jenen Politikern, denen es leichtfiele, sozusagen einen übergreifenden philosophischen Diskurs über den Kaukasus zu entfalten...

Es sieht so aus, als müßte sich das siegreiche Tschetschenien von dem Traum staatlicher Unabhängigkeit verabschieden.

Moskau verfolgt den Kurs, eine Formel zu finden, die den Tschetschenen zusagt und die russischen Nationalisten nicht aus der Reserve lockt. In den bisherigen Vereinbarungen tauchen Formulierungen auf, die sich unterschiedlich interpretieren lassen. Natürlich sind die Befürworter einer harten Linie nicht von der Bildfläche verschwunden. Sie wollen Tschetschenien nicht einmal den Status der Republik Tatarstan einräumen. Ich denke, im Laufe der nächsten zwei Jahre wird dies endgültig entschieden werden. Vielleicht in zwei, drei Etappen. Der Kreml wird bereit sein, Zugeständnisse zu machen. Womöglich kann Grosny eigenes Geld drucken, einen tschetschenischen Rubel, der an den russischen gebunden ist, emittiert von einer tschetschenischen Bank. Ähnlich dem schottischen oder irischen Pfund Sterling. Schleunigst muß auch die Frage der militärischen Kooperation geklärt werden. Die Unterordnung der tschetschenischen Armee unter zwei Oberkommandierende, Jelzin und Maschadow, wäre eine denkbare Lösung. Auch wenn man das in Grosny heute noch nicht hören will, am Ende wird der Kompromiß auf das Modell Tatarstan hinauslaufen: „Unabhängige Republik Tschetschenien assoziiert mit der Russischen Föderation“.